Das Trauma
welche Alternative habe ich denn? Ein sicherer Tod in einem brennenden Haus? Ein Sturz aus fünf Meter Höhe auf einen Haufen Metallschrott?
Ich helfe Tilde aus dem Fenster, und vorsichtig nimmt er das kleine Wesen entgegen. Sagt ihr, sie solle sich ganz fest an seinem Hals anklammern, und klettert nach unten. Ich warte einige Sekunden, dann zwänge ich mich durch das Fenster, mit den Füßen zuerst. Steige vorsichtig die unsichere Leiter hinunter. Falle unten auf den Boden und bleibe liegen, auf dem Rücken, im Schnee.
Atme. Höre hinter mir Stimmen im Sturm.
Jemand weint. Henrik. Und die Kleine tröstet ihn. Sagt, dass alles gut werden wird, dass er keine Angst zu haben braucht, dass sie nachgesehen hat, genau, und dass es hier keine Löwen gibt.
Auszug aus dem psychiatrischen Gutachten
Die neuropsychologische Untersuchung ergibt, dass Tobias Lundwall an einer geringfügigen bis mäßigen Entwicklungsstörung leidet.
Das bedeutet genauer gesagt, dass Tobias Lundwall in gewissen Situationen nicht wie ein erwachsenes Individuum handelt, sondern eher wie ein Kind im Latenzalter. Er verfügt über mangelhafte intellektuelle Kapazität, was seine Fähigkeit beeinflusst, abstrakte Überlegungen anzustellen und sich Informationen aus der Umwelt anzueignen. Es muss als erstaunlich gelten, dass Lundwalls Funktionsstörungen nicht früher entdeckt worden sind.
Außerdem weist Tobias Lundwall gewisse autistische Züge auf, aber diese sind nicht von einem solchen Ausmaß, dass die Kriterien eines autistischen Syndroms erfüllt werden.
Die psychiatrische Einschätzung zeigt auch gewisse antisoziale, schizoide und paranoide Züge, aber auch hier erfüllt der Patient nicht sämtliche Diagnosekriterien. Nichts in der Untersuchung lässt bei Tobias Lundwall, trotz der geringfügigen Entwicklungsstörung, eine beeinträchtigte Wirklichkeitsauffassung, ein beeinträchtigtes Urteilsvermögen oder mangelnde Fähigkeit, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, annehmen. Tobias Lundwall kann also, trotz der überaus schwerwiegenden Vergehen, deren er sich schuldig gemacht hat, nicht als jemand gelten, der an einer ernsthaften psychischen Störung leidet, weshalb kein Grund besteht, Tobias Lundwall gemäß § 31 Kpt. 3 Strafgesetzbuch in rechtspsychiatrische Obhut zu überweisen.
Dr. med. Antonio Waezlaw, Gerichtspsychologe
Universität Stockholm, fünf Monate später
»Jesus Maria!«
»Sag das nicht!«
Ich schaue Vijay warnend an. Er lächelt strahlend, entblößt seine weißen, perfekten Zähne. Streichelt mit seiner rechten Hand meinen riesigen Bauch. In der linken hält er eine Kippe. Er drückt sie blitzschnell in einer Vase mit verwelkten Schnittblumen aus, als er meinen Blick sieht.
»Verzeihung, es gibt so verdammt viel, was man in Anwesenheit von Schwangeren nicht darf.«
Ich nehme vorsichtig einen Stapel Aufsätze von dem einzigen Besucherstuhl und wische mir den Schweiß von der Stirn. Obwohl es erst April ist, haben wir seit einer Woche über zwanzig Grad.
»Wie geht es dir?«
Vijay legt den Kopf schräg und mustert mich, während er sich zugleich in seinen Sessel sinken lässt. Der ächzt bedrohlich. Dann legt er seine Quanten auf den Tisch. Die Turnschuhe des Tages sind grün und orange und wirken wie Originalware aus den Siebzigern. Als er sich mit dem Stuhl umdreht, um einige backsteindicke Bücher in das Regal hinter dem Schreibtisch zu heben, sehe ich, dass er seine graumelierten Locken im Nacken zu einem kleinen Knoten gesammelt hat.
»Gut, mir geht es gut«, sage ich. »Aber ich hab das hier ganz schön satt.«
Ich lege die Hand auf meinen Bauch, der sich unter Markus’ altem Jeanshemd spannt wie ein Wasserball.
»Wie lange hast du jetzt noch?«
»Angeblich kommt es in einer Woche.«
»Angeblich. …?«
»Wir werden ja sehen. Ich habe mit Junior gesprochen und gesagt, es sei jetzt Zeit, herauszukommen.«
»In der Hand gibt es einen Akupressurpunkt …«, setzt Vijay an.
Ich hebe die Hand zum Protest.
»Bitte, ich glaube nicht an diesen Humbug.«
Aber schon steht er neben meinem Stuhl. Setzt sich vor mich auf den Schreibtisch, nimmt meine linke Hand mit leichtem Griff und presst auf einen Punkt zwischen meinem Daumen und meinem Zeigefinger.
»Ich nehme an, schaden kann es wohl nicht«, murmele ich und wische mir wieder Schweiß von der Stirn. »Wie ist es zu Hause?«
Er schweigt eine Weile. Sieht mich nicht an. Massiert und drückt nur weiter meine Hand.
»Leer«, sagt er dann.
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