Das Trauma
nicht. Nur dieses eine einsame Wort.
Ich nicke. Verkneife mir die Bemerkung, dass es in der Stadt von feschen Männern nur so wimmelt, dass es Frühling ist, dass er attraktiv und begehrenswert ist, denn ich weiß, dass er das auch weiß. Denke, dass der, den er liebt, ihn verlassen hat und dass er zumindest ein Anrecht auf Trauer hat. Dass es falsch wäre, zu verlangen, dass er die hinter sich zurücklässt wie ein abgelegtes Kleidungsstück.
Vijay räuspert sich kurz und lässt meine Hand los, bleibt aber vor mir auf dem Tisch sitzen. »Und was ist mit Markus?«
Ich zucke mit den Schultern.
Er nickt, ohne weitere Fragen zu stellen.
»Du hast wohl gehört, dass das Urteil gestern gefallen ist?«
»Es war wohl kaum zu übersehen. Es war in allen Schlagzeilen. Ich verstehe ja nicht, wie ein Entwicklungsgestörter zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt werden kann.«
»Zehn Jahre ist die übliche Strafe für Mord. Man kann auch lebenslänglich bekommen, wenn das Vergehen besonders schwerwiegend war. Was immer das bedeuten mag. Ich meine, schlimmer kann es doch wohl nicht werden? Der Mord an Susanne Olsson war überaus gewaltsam, und dann war da noch die Frau, die Nachbarin, die er ermordet hat und die dann in dem abgebrannten Haus gefunden wurde. Aber ich bin ja kein Jurist, sondern nur ein Gehirnklempner.«
Ich lasse mich zurücksinken, die kräftigen Tritte in meinem Bauch rauben mir fast den Atem. Versuche vergeblich, eine bequeme Stellung zu finden.
»Aber Tobias ist doch entwicklungsgestört. Okay, es ist eine geringere Entwicklungsstörung, aber er hat nur einen IQ von vielleicht fünfundfünfzig, befindet sich auf dem mentalen Niveau eines Zehnjährigen. So einen können sie doch nicht ins Gefängnis stecken? Wie soll er da zurechtkommen? Was haben wir für eine Gesellschaft, die so etwas zulässt.«
Vijay schüttelt langsam den Kopf und lächelt vielsagend.
»Manchmal verstehe ich dich einfach nicht.«
»Wie meinst du das?«
»Dieser sogenannte Zehnjährige hätte dich und dein ungeborenes Kind fast umgebracht, und du willst ihn frei herumlaufen lassen?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich meine nur, es ist nicht richtig, Entwicklungsgestörte ins Gefängnis zu stecken. Es ist barbarisch, unzivilisiert. Dann können wir auch gleich die Todesstrafe wieder einführen.«
Vijays Blick nimmt einen entschiedenen Ausdruck an, und ich weiß, dass er eine seiner kleinen Vorlesungen vorbereitet.
»Wie du sicher weißt, macht das schwedische Strafrecht im Grunde keinen Unterschied zwischen gesunden oder psychisch behinderten Verbrechern. Früher konnte ein Entwicklungsgestörter zu einer Sonderbehandlung verurteilt werden, aber diese Möglichkeit besteht nicht mehr. Die entsprechenden Anstalten sind schon in den neunziger Jahren verschwunden, zusammen mit dem juristischen Begriff ›unzurechnungsfähig‹. Jetzt gibt es nur die Möglichkeit der rechtspsychiatrischen Behandlung, und dann muss der Gesetzesbrecher an einer ernsthaften psychischen Störung leiden. Die meisten Verbrecher, die in diese Kategorie fallen, sind psychotisch. Es gibt auch einige Demente oder ernsthaft Gehirngeschädigte. Gerade mal halb verrückt zu sein, reicht absolut nicht, um in rechtspsychiatrische Behandlung zu kommen. Und da ist das Gefängnis die einzige verbleibende Möglichkeit.«
»Aber widerspricht das nicht den UN-Regeln?«
»Ja, tut es. Und wir in Schweden sind ja immer schnell damit bei der Hand, zum Beispiel die USA dafür zu kritisieren, dass dort Entwicklungsgestörte und psychisch Kranke hingerichtet werden. Während wir selbst die also ins Gefängnis stecken. Weißt du, vor einigen Jahren wurde eine Untersuchung angestellt, bei der herauskam, dass zwischen fünf und zehn Prozent der Häftlinge in unseren Gefängnissen entwicklungsgestört sind oder einen IQ von unter siebzig haben. Das bedeutet, dass jedes Jahr mehrere Hundert Entwicklungsgestörte zu Gefängnisstrafen verurteilt werden. Es gibt Häftlinge vom selben mentalen Niveau wie Kindergartenkinder. Außerdem gibt es eine hohe Dunkelziffer. Es ist schwerer, die mentale Entwicklung von Personen mit einem anderen ethnischen Hintergrund als Schweden zu beurteilen. Unsere feinen Tests bringen nichts, wenn du nur Kurdisch sprichst, verstehst du? Also gibt es vermutlich viel mehr, als wir wissen.«
»Wie gesagt, barbarisch. Außerdem ist es doch der glatte Wahnsinn. Henrik, der normalbegabt ist, wird zu rechtspsychiatrischer Behandlung verurteilt, mit der
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