Das Trauma
der Mitte durch. Der Stoff ist brüchig und spröde, nachdem er seit Jahren auf dem feuchten Dachboden gelegen hat.
Ich binde die Jeans los und knote den Mantel darüber an die Jacke darunter und ziehe abermals am Kleiderseil.
Ritsch.
Der Mantel reißt in zwei Teile, und Staub aus dem Stoff wirbelt durch den Raum, vermischt sich mit dem immer dicker werdenden Rauch.
»Verdammt.«
Mir treten Tränen in die Augen, ich weiß nicht, ob es am Rauch liegt oder an meiner Situation. Ich lasse mich neben Tilde sinken.
»Mama kommt gleich«, lüge ich.
Sie gibt keine Antwort.
Wir sitzen still unter dem Fenster, hören, wie unten im Haus noch zwei Fensterscheiben explodieren.
Dann von irgendwoher eine leise Stimme. Aus dem Haus, glaube ich zuerst, aber dann geht mir auf, dass sie von außen kommt.
Als ich mich aus dem Fenster lehne, sehe ich ihn vor dem Haus, in dem dichten Schneegestöber. Er steht breitbeinig da und schaut zu meinem Fenster hoch.
»Hilfe!«, schreie ich. Meine Stimme klingt heiser und kraftlos, aber er hat mich trotzdem gehört.
Er stürzt zur Hausmauer, und ich sehe, dass seine Bewegungen etwas Bekanntes haben, der große kräftige Körper, der geschorene Schädel.
»Spring!«
»Es geht nicht, unter dem Schnee liegt so viel Kram, scharfe Teile.«
Ich durchwühle meine Gedanken, mir fällt ein, dass ich neben der Haustür etwas gesehen habe, ehe ich ins Haus gegangen bin.
»Eine Leiter, bei der Haustür steht eine Leiter.«
Ohne zu antworten, dreht er sich um und rennt auf die andere Seite des Hauses, verschwindet im Schneegestöber. Hinter uns ein Knacken, als gäbe die Hauskonstruktion jetzt nach. Plötzlich bebt unter mir der Boden, und fast stürze ich, denn der Boden scheint zu verschwinden. Aber er verschwindet nicht, ändert nur den Winkel. Jetzt kippt der Boden, als stünden wir auf einem Segelboot, und ich muss die Fensterbank packen, um nicht zur Treppe zu gleiten, als der Boden sich in eine riesige Rutschbahn verwandelt.
»Mama!«
Im letzten Moment fange ich Tildes Arm ein und kann sie festhalten. Ihr kleiner Körper, der vorhin so seltsam leicht war, wirkt jetzt bleischwer. Mit letzter Kraft ziehe ich sie zurück zum Fenster.
»Du musst dich hier festhalten, verstehst du?«
Sie sieht mich mit blanken Augen an, ohne zu antworten, packt aber brav die Fensterbank.
Langsam rutschen Kartons, Zeitungsstapel und Müll über den schrägen Boden und ins Feuer. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie die Tote und die Taschen, die neben ihr stehen, langsam davongleiten und mit einem fauchenden Geräusch in den Flammen verschwinden.
Dann ist er wieder da, hebt einige Fahrradskelette aus dem Weg und lehnt die Leiter an die Fassade. Wortlos fängt er an, hochzuklettern. Die erste Sprosse bricht, und er fällt hinunter, auf den Boden, flucht, bleibt auf dem Rücken liegen und sieht uns an, während wir halbwegs aus dem Fenster hängen.
Und jetzt sehe ich, wer es ist.
Henrik.
Die Übelkeit kehrt mit einer Kraft zurück, die ich nicht für möglich gehalten hätte, und ich sinke auf dem schrägen Boden vor dem Fenster auf die Knie.
Und ich begreife, wie alles zusammenhängt.
Begreife, warum der Wagen mit dem zerbrochenen Scheinwerfer uns durch den Sturm gefolgt ist. Henrik, auf der Jagd nach Kattis. Der Frau, von der er glaubt, dass sie Susanne und Tilde umgebracht hat.
Dann steht er plötzlich vor dem Fenster, auf der Leiter. Sein Gesicht auf der Höhe meines eigenen. Die Augen weit offen, die Arme ausgestreckt.
»Geben Sie mir Tilde. Ich trage sie zuerst hinunter.«
»Henrik!«, schreit Tilde und steckt die Ärmchen nach ihm aus, aber ich halte sie zurück, denn woher soll ich wissen, dass er sie retten will? Der Mann hat immerhin vor meinen Augen eine Frau ermordet.
Er erwidert meinen Blick, sieht mich an, als wäre ich verrückt.
»Aber Herrgott, das glauben Sie doch wohl nicht! Sie ist wie meine eigene Tochter!«
Jetzt liegt Verzweiflung in seinen Augen. Abermals ist aus dem Haus ein lautes Krachen zu hören, und der Boden kippt erneut. Wird noch steiler. Jetzt spüre ich die Hitze, die von unten hochstrahlt.
Als befänden wir uns in einem riesigen Ofen. Und ich denke, dass ja gerade das der Fall ist.
»Sie ist alles, was ich noch habe. Ich liebe sie. Begreifen Sie das nicht?«
Henriks Augen blicken in meine, und ich lasse seine Worte in mich einsickern. Nach allem, was passiert ist: Er liebt sie! Wieder die Liebe. Was bedeutet das eigentlich? Kann ich ihm vertrauen? Aber
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