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Das Trauma

Das Trauma

Titel: Das Trauma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Grebe
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Begründung, dass er im Tataugenblick an einer schwerwiegenden psychischen Störung gelitten hat. Zugleich heißt es, dass er jetzt im Prinzip gesund ist, deshalb kommt er sicher sehr schnell wieder frei. Während Tobias, der entwicklungsgestört ist, im Gefängnis sitzen soll. Für zehn Jahre. In was für einer Gesellschaft leben wir eigentlich?«
    Vijay zuckt mit den Schultern.
    »Willkommen in der Wirklichkeit, Engelchen.«
    Ich schüttele den Kopf.
    »Nein, das Problem ist nicht, dass ich naiv wäre. Das hier ist falsch, es ist eines Rechtsstaates nicht würdig. Tobias, der so naiv ist, der ganz offenbar in seiner ganzen Kindheit von älteren Kindern betrogen und ausgenutzt worden ist, wie soll der im Gefängnis zurechtkommen?«
    »Es gibt ja angeblich individuelle Arbeitsplätze für die Häftlinge. Damit man auf die Bedürfnisse aller Einsitzenden Rücksicht nehmen kann.«
    Vijays Stimme hat einen leichten Unterton von Sarkasmus.
    »Aber sicher doch.«
    »Eine andere interessante Beobachtung ist, dass bisher niemand seine Behinderung entdeckt hatte. Wenn ich das richtig verstanden habe, hatte er schon mit achtzehn Monaten Probleme, und seine Eltern und seine Lehrer hatten zahllose Kontakte mit Psychologen. Warum hat niemand begriffen, was mit ihm nicht stimmte? Dann wäre Hilfe vielleicht möglich gewesen. Dann hätte sich das, was passiert ist, vielleicht verhindern lassen.«
    Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, ich verspüre nur Widerwillen und Resignation.
    »Hat Tobias übrigens jemals gesagt, warum er es getan hat?«
    »Nein. Er hat sich überhaupt geweigert, über sein Verbrechen zu reden. War stumm wie ein Fisch. Hat nichts zugegeben. Sie haben ihn ja festgenommen, als er versucht hat, Kattis aus dem Autowrack zu holen. Und dann hat er wirres Zeug darüber geredet, dass sie ihr helfen müssten, nur das sei wichtig. Nur das spiele eine Rolle. Eigentlich hat er sonst nichts gesagt. Danach war er … stumm. Bei sämtlichen Vernehmungen. Wenn sie keine eindeutigen Beweise gehabt hätten, hätten sie ihn wegen des Mordes an Susanne niemals verurteilen können. Sie haben ja diese blutverschmierten Gummihandschuhe gefunden, mit seinen Fingerabdrücken, die lagen hinten in seinem Auto. Und an seinen Schuhen hatte er Spuren von Susannes Blut. Außerdem waren in Susannes Wohnung Haare seines Hundes. Ich vermute, er hat sich eingebildet, Kattis durch diesen Mord zu helfen. Sie hatte doch ganz schön schlecht über Henrik und dessen neue Freundin gesprochen. Aber egal. Es war ein verdammtes Glück, dass er die Kleine nicht auch noch umgebracht hat.«
    Ich nicke, denke an die schmutzigen Ärmchen, die um meinen Hals gelegen haben. An den Geruch von Schimmel und Urin in der engen Garderobe. Den Rauch, der durch die Bodenbretter quoll und wie Seegras zur Decke hin verschwand, die Hitze, die vom Erdgeschoss her zu uns aufstieg.
    Vijay mustert mich schweigend, und ich frage mich, was er denkt, wie er diese vielen Ungerechtigkeiten, die vielen Schönheitsflecken in unserer feinen skandinavischen Mustergesellschaft, wohl sieht.
    »Das alles«, fange ich an. »Das macht mir … einfach Kummer. Ich denke auch an Hillevis Kinder. Weißt du, dass die jetzt wieder bei ihrem Vater leben?«
    Vijay schüttelt traurig den Kopf.
    »Das wusste ich noch nicht. Aber es kam ja wohl nicht überraschend, oder?«
    »Ich weiß nicht. Vielleicht, aber es ist trotzdem nicht richtig, ist unglaublich falsch. Sie hätten irgendwo ein geborgenes Zuhause gebraucht. Sie dürften nicht bei jemandem leben müssen, der sie misshandelt hat.«
    Plötzlich fällt mir der Traum ein, den ich im Herbst in einer Nacht hatte, als Hillevi in ihrem blutigen Hemd zu mir kam und mich bat, mich um die Kinder zu kümmern, und als ich genau das versprochen habe. Aber jetzt sind sie doch wieder bei ihrem Vater, der sie misshandelt. Ich wünschte, ich könnte mehr tun, könnte diesen Kindern wirklich helfen.
    Dann kommt wieder ein Tritt, und ich werde überaus nachdrücklich in Vijays Zimmer zurückgeholt. Ich schaue aus dem Fenster. Hellgrüne Blätter bewegen sich draußen im leichten Wind. Mühsam stehe ich auf.
    »Du, ich muss jetzt los. Ich bin mit einer … Bekannten zum Kaffee verabredet.«
    Er nickt zerstreut.
    »Ist schon gut.«
    »Danke, wie reizend, dass du mir das erlaubst.«
    Vijay lacht.
    »Du hast meine Genehmigung, Schwester. Und übrigens. Das Buch. Das hole ich für dich.«
    Seine Umarmung zum Abschied ist warm, wenn er auch ein wenig zu fest

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