Das Trauma
wieder an ihrer grauen Männerjacke, und ich kann sehen, dass vorn ein Knopf fehlt. Als könnte sie Gedanken lesen, versteckt sie plötzlich die Stelle, wo der Knopf hätte sitzen müssen. Verlegen. Als ob ich sie bei irgendeiner Schandtat erwischt hätte.
»Mia hat keinen Brei gekauft … Mia hat keine Colgate gekauft.«
»Ich habe Sensodyne gekauft.«
»Du weißt, dass ich diesen Dreck nicht benutze. Du weißt, welche Zahnpasta wir benutzen. Wie oft muss ich dir das noch sagen?«
»Verzeih, ich weiß. Ich hatte vergessen …«
»Moment jetzt mal, alle beide. Erstens, Patrik, Sie verstoßen gegen die Regeln, wenn Sie so beleidigend über Mia sprechen. Dafür sollten Sie sich entschuldigen.«
Patrik seufzt demonstrativ und lässt seinen ganzen langen Körper mit einem Ruck gegen die Rückenlehne fallen, dann mustert er seine Frau mit gerunzelten Augenbrauen.
»Ja, entschuldige, das war blöd.«
Seine Stimme ist so neutral, dass ich nicht entscheiden kann, ob er es ernst meint oder nur sarkastisch ist.
»Zweitens, ist Ihnen klar, dass Sie sich über eine Tube Zahnpasta streiten?«
Schweigen.
»Spielt es eine Rolle, ob Mia Sensodyne oder Colgate kauft? Kommt es darauf an? So wichtig ist Ihnen Ihre Beziehung?«
»Das meine ich doch nicht«, antwortet Patrik erregt, nicht aggressiv, sondern eher, als ob er mir unbedingt erklären wollte, wie alles zusammenhängt. Die Situation klarstellen.
»Ich meine, es kommt nicht auf die Zahnpasta an, aber es ist irgendwie typisch für unsere ganze Beziehung. Für Mia. Sie kann einfach nichts … richtig machen. Es spielt keine Rolle, wie oft man ihr etwas sagt.«
»Verzeih, verzeih«, wiederholt Mia wie ein Mantra.
Ich wende mich an sie und werde leise.
»Mia, was empfinden Sie, wenn Patrik so über Sie spricht?«
Sie zögert und schaut unsicher zu Patrik hinüber.
»Ich weiß wirklich nicht …«
»Letztes Mal sagten Sie, Sie fühlen sich manchmal von Patrik verletzt. Kann es sein, dass Sie sich jetzt ein wenig verletzt fühlen?«
»Das weiß ich wirklich nicht«, wiederholt sie.
»Da haben Sie’s«, sagt Patrik blitzschnell. »Sie weiß ja nicht einmal, was sie empfindet. Okay, ich bin ein Arsch, aber ich kann das immerhin zugeben. Weiß jedenfalls, wo ich stehe.«
Ich lasse Mia nicht aus den Augen.
»Mia, wie fühlen Sie sich, wenn Patrik so etwas sagt?«
»Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich weiß nicht …«
Mia schluchzt laut und wiegt sich auf dem Stuhl hin und her.
»Ich weiß nichts mehr. Ich weiß nur, dass … dass ich Patrik liebe und will, dass … dass er mich auch liebt. Und dass wir …. wieder eine Familie sind.« Patrik schüttelt den Kopf und schaut mich triumphierend an.
»Was habe ich gesagt?«
Auszug aus dem amtsärztlichen Bericht
18-Monats-Untersuchung
18 Monate alter Junge zur Entwicklungseinschätzung. Die Mutter hält den Knaben für einen Spätentwickler, was sie beunruhigt. Sie meint, das Kind habe eine abweichende Sprech- und Sprachentwicklung und scheine nicht immer zu verstehen, wenn sie mit ihm spricht. Hat keine Sprache. Es ist jedoch möglich, Kontakt mit ihm aufzunehmen, und der Junge weicht den Eltern nicht aus. Sie vermutet auch eine verspätete psychomotorische Entwicklung und berichtet, er habe erst vor kurzem Gehen gelernt. Es gibt keine Geschwister, und die Mutter gibt zu, dass sie keine große Erfahrung mit Kindern und keine Vergleichsmöglichkeiten hat.
Bei diesem Besuch ist der Junge lieb und umgänglich. Die somatische Untersuchung ergibt keine Abweichungen. Der Junge reagiert auf Blickkontakt und wirkt neugierig und interessiert. Scheint in der motorischen Entwicklung ein wenig unreif. Hat gewisse Schwierigkeiten damit, ohne Unterstützung zu gehen. Auch in der Feinmotorik zeigt sich ein gewisser Entwicklungsrückstand, er kann keinen Turm aus Bauklötzen bauen oder eine Zeichnung kritzeln. Das kann jedoch auch daran liegen, dass der Junge diese Aufgaben nicht interessant findet. Ich erkläre der Mutter, dass Kinder sich unterschiedlich schnell entwickeln und dass sprachliche sowie motorische Entwicklung stark variieren und sich trotzdem noch in normalem Rahmen befinden kann. Die Mutter wirkt beruhigt. Weitere Maßnahmen werden nicht für notwendig befunden. Der Junge bekommt zudem einen Impftermin bei Schwester Ingrid.
Dr. med. Sture Bengtsson, Amtsarzt
Die Fensterscheiben sind schwarz, und der Regen hat schmale Bäche gezogen, die sich über das Glas schlängeln. Ich öffne das Fenster, beuge mich
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