Das Trauma
Hände an.
Aina redet weiter. Sie schildert das Ziel dieser Gruppe: »Keine psychotherapeutische Gruppe, sondern eine Selbsthilfegruppe mit professioneller Leitung.« Die Regeln: »Wir haben Schweigepflicht, und Sie legen untereinander ein Schweigegelöbnis ab.« Und den Rahmen: »Einmal pro Woche, acht Wochen lang.« Es ist ein ungewohntes Gefühl, zwei Gruppenleiterinnen zu haben. Ich muss Aina einfach beobachten, ihren Einsatz bewerten. Sie macht einen guten Eindruck. Abermals ist selbstsicher das Wort, das mir einfällt. Aina wirkt ihrer selbst sicher und zuverlässig. Ihre Erfahrung ist ihr anzumerken. Ich denke daran, wie unsicher ich bin, was meine Rolle in diesem Projekt angeht. Ich bin Gruppenleiterin, zugleich aber ein Opfer von Gewalt. Eine dünne Wand trennt beides. Gruppenleiterin und nicht Teilnehmerin. Professionell und kein Opfer.
»Ich schlage vor, wir fangen mit einer Vorstellungsrunde an. Das hier ist ja eine besondere Situation dadurch, dass Sie alle aus derselben Gemeinde kommen. Sie kennen sich vielleicht untereinander, zumindest vom Sehen. Deshalb möchte ich noch einmal an die gegenseitige Schweigepflicht erinnern, das ist wirklich wichtig. Keine soll Angst haben müssen, dass das, was sie hier in der Gruppe erzählt, allgemein bekannt wird. Okay?« Aina schaut sich in der Runde um und scheint den Blick jeder Teilnehmerin zu erwidern. Ich sehe die Frauen an, die alle mit ernster Miene nicken und ein Ja murmeln.
»Sie erzählen vielleicht, wie Sie heißen, der Vorname reicht, und dann kurz etwas darüber, warum Sie hier sind. Natürlich brauchen Sie nicht mehr zu sagen, als Sie wollen. Gerne etwas darüber, was Sie sich von dieser Gruppe erhoffen. Was Sie glauben, wobei die Gruppe Ihnen helfen kann.«
Aina lächelt und schafft es, engagiert und mitfühlend zugleich auszusehen.
»Ich kann anfangen.«
Die Frau neben mir schaut sich um, dann lächelt sie noch einmal vorsichtig und ein wenig nervös.
»Ich heiße Kattis. Ja, eigentlich Katarina. Aber Kattis.
Kattis. Alle sagen immer Kattis. Und ich arbeite im Jobcenter. Als Sachbearbeiterin. Aber das soll man vielleicht nicht sagen.«
Sie verstummt und schüttelt den Kopf.
»Entschuldigung. Ich bin nervös. Es ist schwer, darüber zu reden.«
Aina erwidert ihren Blick und nickt ermutigend. Kattis holt Luft und fängt noch einmal an.
»Ich bin hier, weil mein ehemaliger Freund mich misshandelt hat. Ich hoffe auf Hilfe, um damit fertigzuwerden. Um Henrik hinter mir zu lassen. Und um mir selbst verzeihen zu können, dass ich so verdammt blöd war, bei ihm zu bleiben.«
Ausatmen. Schweigen. Kattis sieht aus, als könnte sie ihren eigenen Worten nicht trauen.
»Willkommen, Kattis. Ich notiere mir Ihre Ziele.« Aina nickt und macht sich auf ihrem Block eine Notiz. Dann wendet sie sich dem jungen Mädchen neben Kattis zu. Ich denke, dass sie kaum achtzehn sein kann. Jung, schmal und zerbrechlich. Sieht aus, als könnte sie jeden Moment auseinanderfallen. Ihre langen schmalen Finger machen sich die ganze Zeit an irgendwas zu schaffen. Ihrem kurzen Kleid. Den Haaren. Dem Gesicht.
»Ich heiße Sofie. Und ich bin hier, weil mein Stiefvater mich misshandelt hat. Kein Inzest oder so. Er hat mich nur geschlagen. Wenn er betrunken war und ich irgendetwas falsch gemacht habe. Ich bin hier, weil ich …«
Sofie verstummt und starrt den Boden an, wie um eine Formulierung zu finden.
»Ich will dasselbe wie sie, wie Kattis, meine ich.«
Sie lächelt Kattis ein wenig verlegen an.
»Ich will auch damit fertigwerden, irgendwie so.«
Aina nickt und notiert. Die anderen Gruppenmitglieder nicken ebenfalls. Sehen betroffen und interessiert aus.
Neben Sofie sitzt noch ein junges Mädchen, einige Jahre älter, aber noch immer jung. Sie sieht stark und energisch aus. Kurzgeschnittene, blondierte Haare, sportliche Kleidung. Ich habe das Gefühl, dass sie Sportlerin ist. Sie blickt in die Runde und scheint die ganze Gruppe gleichzeitig zu mustern.
»Malin. Ich bin vergewaltigt worden, von einem Typen, zu dem ich glaubte, Vertrauen haben zu können. Ich bin hier, weil ich hoffe, hier meine Wut loszuwerden. Und weil ich mich nicht als Opfer fühlen will. Ich glaube, es hilft, darüber zu sprechen. Ich glaube, es kann besser werden.«
Ihre Stimme ist stark und klar, und sie schaut Aina fragend an. Wie, um sie herauszufordern.
Aina notiert etwas auf ihrem Block und geht dann zur Nächsten weiter. Die ist die Älteste in der Runde. Vermutlich um die sechzig.
Weitere Kostenlose Bücher