Das Trauma
Rotgefärbte Haare und nikotingelbe Fingernägel. Ihr Gesicht ist runzlig und von Leberflecken übersät. Sie sieht erschöpft und vom Leben gezeichnet aus. Für einen Moment überlege ich, was mich mit diesen Frauen verbindet. Nichts, vermutlich. Ich bin für einen Moment wütend auf mich. Ermahne mich, mich auf die anderen zu konzentrieren, auf die Teilnehmerinnen. Nicht auf mich selbst. Ich komme mir vor wie eine hoffnungslose Egozentrikerin und sehne mich verzweifelt hinaus in die regenschwere Dunkelheit.
»Ich heiße Sirkka«, sagt die Frau mit starkem finnischem Akzent. »Ich bin hier, weil mein Mann mich misshandelt hat. Weil ich das begriffen habe. Nach so vielen Jahren. Er ist im vorigen Winter gestorben, und seither habe ich angefangen nachzudenken.«
Sie seufzt. Ein so tiefer Seufzer, dass er die anderen zum Innehalten zwingt. Sie hat jetzt die Aufmerksamkeit aller.
»Ich wünschte …«
Schweigen.
»Ich wünschte, ich könnte noch einmal neu anfangen. Wie ihr jungen Mädels hier. Aber ich bin zu alt. Aber ich hoffe doch, dass ich vielleicht …«
Zögern.
»Mit mir selbst Frieden schließen kann, vielleicht.«
Sirkka wirft den Kopf in den Nacken, wie um klarzustellen, dass sie fertig ist. Dass sie genug gesagt hat.
Die letzte Teilnehmerin. Eine schöne Frau in den Vierzigern. Dunkle kurzgeschnittene Haare rahmen das Gesicht ein. Grüne Augen, ein perfekt gemalter Mund in Weinrot. Exquisite Kleidung. Eine Frau, die man bemerkt. Sie schaut vom Tisch auf und konzentriert sich auf mich und nicht auf Aina.
»Ich bin Hillevi, und ich wohne im Moment in einem Frauenhaus, zusammen mit meinen drei Kindern, meinen Söhnen.« Hillevi lächelt und sieht froh aus, vielleicht, weil sie an ihre Söhne denkt.
»Ich wohne in Solgården, weil der Vater der Kinder mich geschlagen hat, mein Mann also.« Hillevi verstummt. Es ist keine Pause, die einem Zögern entspringt, sondern eine wohlüberlegte Pause, und ich habe den Eindruck, dass Hillevi eine geübte Rednerin ist, der es nichts ausmacht, vor anderen das Wort zu ergreifen. Sie schaut sich in der Runde um, dann richtet sie ihren Blick wieder auf mich.
»Ich kann damit leben, dass er mich geschlagen hat. Ich bin dazu erzogen, an die Ehe zu glauben. Meine Eltern sind Freikirchler und haben mir beigebracht, dass es in der Ehe Gutes und Schlechtes gibt. Sonne und Regen. Jakob hat nicht oft geschlagen, und wenn es vorkam, hat er es zutiefst bereut. Er ist kein Frauenhasser. Er respektiert mich. Er liebt mich. Er ist nur so jähzornig, er wird einfach so wütend. Wir waren bei der Eheberatung. Jakob hat sich Mühe gegeben. Hat an seinem Verhalten gearbeitet. Ich dachte, er hätte sich gebessert.«
Hillevi verstummt, denkt nach.
»Es wurde auch besser. Wirklich. Aber dann hat er Lukas geschlagen.«
Sie verstummt abermals. Ich fange ihren Blick auf, und erst jetzt sehe ich, dass sie sich schämt.
»Er hat Lukas geschlagen, das ist unser ältester Sohn. Er ist fast sieben.«
Tränen quellen hervor, und sie lässt sie über ihre Wangen und dann weiter über ihren schmalen bleichen Hals laufen.
»Ich bin hier, weil ich einsehen muss, dass ich nicht mit dem Mann zusammenleben kann, den ich liebe. Und weil ich mir verzeihen muss, dass ich es nicht geschafft habe, unsere Kinder zu beschützen.«
Ich nicke langsam, um zu bestätigen, dass ich alles gehört habe. Dass ich begriffen habe, dass ihre Welt auseinandergebrochen ist und jetzt nach einem neuen Muster zusammengefügt werden muss.
Ainas Stimme holt mich in die Gruppe und zur Tagesordnung zurück.
»Schön«, sagt sie. »Jetzt wissen wir ein wenig mehr voneinander. Ich will Ihnen nun ein wenig über die üblichen Reaktionen von Menschen berichten, die Gewalt ausgesetzt waren, und auch über die üblichsten Phasen eines normalen Krisenverlaufs. Aber das hier ist keine Vorlesung, sondern soll ein Dialog sein, also dürfen Sie mich gern unterbrechen.«
Ich räuspere mich und drehe mich um, um nach einem Filzstift zu greifen. Jetzt bin ich an der Reihe.
»Es heißt, in einer Krise durchlaufe man verschiedene Phasen. Vielleicht haben Sie schon davon gehört?«
Die Anatomie der Krise steht nun zergliedert vor uns an der weißen Tafel. Die Gruppe sitzt schweigend da und sieht mich an, wartet auf meine Anweisungen. Ich merke, wie meine Wangen plötzlich heiß werden. Ich bin es nicht gewöhnt, so große Gruppen zu leiten. Nicht daran gewöhnt, über Gewalt gegen Frauen zu sprechen, nicht daran gewöhnt, mich bei
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