Das Trauma
Tendenzen Auslauf zu verschaffen. Außerdem, und das geht ihn eigentlich nichts an, wird behauptet, Henrik verspiele fast sein ganzes Geld mit Pferdewetten.
Und er sitzt nun hier mit einer Fünfjährigen am Hals, so hat er sich das nicht vorgestellt. Und die Tour nach Phuket, mit den Jungs, die hat er natürlich auch absagen müssen.
Er trinkt einen großen Schluck der lauwarmen Flüssigkeit, und die Alkoholdünste bringen seine Augen zum Brennen.
Alle waren sehr verständnisvoll, als er absagte. Alle fanden das, was mit Susanne passiert ist, einfach nur übel. Außerdem war er in seinen Kreisen so eine Art Promi geworden. Jemand, dem besonders viel Respekt und Interesse entgegengebracht wurde. Jemand, dessen Kontakt man suchte. Und das war eigentlich ein ziemlich gutes Gefühl.
Dann steht sie plötzlich vor ihm, schlingt ihre dünnen Ärmchen um seine Jeansbeine und schaut ihn aus diesen großen blauen Augen an, die auch Susannes Augen sind, und er spürt, wie sich in seinem Zwerchfell etwas Weiches ausbreitet. Ein Gefühl, dessen Namen er nicht kennt und mit dem er auch nicht umgehen kann.
»Herzchen, Papas kleines Herzchen.«
Er bückt sich und küsst sie auf die Wange.
»Igitt, Papa, du riechst wie die Tante.«
»Wie die Tante?«, fragt er verwirrt.
»Ja, wie die Tante, wenn sie diese blaue Schmiere an den Händen hat.«
»Die blaue Schmiere?«
Dann fällt es ihm ein. Auf der Toilette der Kita steht eine riesige Pumpflasche voll Alkogel, das das Personal benutzt, wenn sie sich die Hände gewaschen haben. Das soll Grippe verhindern. Riecht er so, wie Alkogel? Er stellt das Glas mit der bernsteingelben Flüssigkeit weg und nimmt Tilde auf den Schoß.
»Zeit zum Schlafen, Herzchen.«
Sie nickt ernst, und er staunt wieder darüber, wie gehorsam sie ist, ob sich das wohl halten wird, oder ist das eine Phase, die sie durchmacht? Er überlegt, ob sie traumatisiert ist, und wenn ja, wie sich das äußern wird.
Er hebt sie ins Bett und steckt die Nase in ihre braunen Haare, riecht Essen und Seife.
»Gute Nacht, Papas Prinzessin.«
»Du musst mir auch die Zähne putzen. Man muss die Zähne putzen.«
Sie reißt die blauen Augen auf und sieht ihn wieder mit dem ernsten Blick an, und er seufzt.
»Oh, das hat Papa vergessen. Ich hol die Bürste, ja?«
Sie nickt.
Er geht ins Badezimmer, sucht im Chaos auf der Waschmaschine nach der kleinen Zahnbürste, die aussieht wie eine Giraffe. Findet sie endlich unter einer Kautabaksdose, kann aber Tildes Zahnpasta mit dem Erdbeergeschmack nicht entdecken. Stattdessen gibt er ein wenig Colgate auf die Zahnbürste und geht zurück in das provisorische Kinderzimmer. Denkt, dass er bald Ordnung schaffen muss, die Wände in einer muntereren Farbe anstreichen. Gelb, vielleicht? Mit kleinen Kindermöbeln einrichten – bei Ikea sind die billig und gut, das hat er im Internet gesehen – und Hockeyschläger und Computerspiele daraus verbannen.
Vorsichtig bürstet er ihre makellosen Zähnchen, während sie brav den Schnabel aufsperrt.
»Das wär’s. Und jetzt schlaf.«
Aber sie starrt ihn geschockt an.
»Aber Papa, du hast ja das Nachthemd vergessen.«
»Ach so, herrje, nein, so geht das ja nicht.«
Er zieht ihr das Nachthemd an, das mit Dora the Explorer bedruckt ist. Gibt ihr noch einen Kuss auf die Wange und schleicht sich aus dem Zimmer.
Noch einen Whisky, denkt er. Wenn jemand einen Whisky verdient hat, dann ich.
Er tritt ans Fenster und schaut auf die dunkle, aufgeweichte Wiese hinaus. Zum Wald dahinter, zur Silhouette von Tannen und Fichten, die sich noch immer vor dem dunklen Himmel abzeichnen. Seufzt tief. Stellt sich den mehligen weichen Sand an den Stränden von Phuket vor, die Bars von Patong. Die samtige braune Haut der Frauen und ihre schmalen Hüften unter den viel zu kurzen Röcken.
Denkt, es hätte ihm gutgetan, wegzukommen. Endlich die Ruhe zu genießen, die er verdient. Die Ruhe, die er so dringend braucht.
Er lehnt die Stirn an die Fensterscheibe, hört den Wind draußen. Sieht, wie blankes Herbstlaub in der Dunkelheit vorüberflattert.
»Paaaapa.«
Zuerst gibt er keine Antwort. Bringt es nicht einmal über sich, die Augen zu öffnen, kann sich nur mit seinem ganzen Gewicht gegen die kalte Fensterscheibe lehnen.
» Paaaapaaaa!«
Sie steht mitten in ihrem Zimmer und schaut zum Fenster hinüber. Die dünne Gardine flattert ein wenig im Luftzug.
»Aber Herzchen, du musst doch schlafen.«
Er hebt sie hoch, aber sie windet sich aus seinem Griff.
Weitere Kostenlose Bücher