Das Trauma
sagt. Sie zeichnet nur. Sie hat ihre Mutter seit dem Mord nicht erwähnt, sie fragt nicht, sie will nichts wissen. Sie scheint einfach abgeschlossen zu haben. Und er weiß nicht, wie er sie dazu bringen soll, sich wieder zu öffnen.«
»Wird sie behandelt? Geht sie zu einem Psychologen?«
Ich denke an das kleine Mädchen, das stundenlang unter dem Küchentisch gesessen und gezeichnet hat, während ihre Mutter tot neben ihr auf dem Küchenboden lag, und daran, was Markus mir über die polizeiliche Vernehmung der Kleinen erzählt hat.
»Ja, sie geht zu einer Psychologin vom Jugendamt. Aber ich weiß nicht, was die da machen, das weißt du sicher besser.«
»Ich habe eigentlich keine Ahnung. Ich habe nie mit traumatisierten Kindern gearbeitet. Sie helfen ihr vielleicht, sich auszudrücken. Durch Zeichnen, Malen … ich weiß es nicht.«
Ich sehe ein, dass mein Wissen um die Behandlung von Kindern, die Gewalt erlebt haben, unerhört begrenzt ist. Plötzlich fällt mir eine Psychologie-Vorlesung ein, bei der eine blonde Frau mit großen silbernen Ohrringen und einem schönen Pashminaschal über ihre Arbeit mit Flüchtlingskindern in einer Unterkunft im Norden von Stockholm erzählt hat. Dass die Kinder Bilder von Soldaten zeichneten, um sie danach zu zerreißen.
»Was ist übrigens aus der Raubmordtheorie geworden?«
»Sie glauben noch immer, dass es Raubmord gewesen sein kann. Einfach so. Es wirkt so entsetzlich unnötig.«
»Und Henrik, wie kommt er ins Bild, als Räuber oder wie?«
Ich sehe Markus an, sehe, dass er eine Grimasse schneidet und die Augen verdreht.
»Ich glaube das mit dem Raubmord nicht, klar? Es wirkt einfach falsch. So viel Wut. Sie haben den Reklameverteiler vernommen, der sie gefunden hat. Und er hat ihre Brieftasche mitgehen lassen, das macht ihn natürlich verdächtig. Aber Herrgott, ein Sechzehnjähriger, der sie überhaupt nicht gekannt hat. Nein, das glaube ich nicht. Und Henrik ist noch immer verschwunden. Unsere Profiler glauben, dass er vor allem für sich selbst gefährlich ist. Haben Angst, er könnte Selbstmord begehen, wenn er begreift, was er getan hat. Als ob das eine Hilfe wäre. Seine Exfreundin Kattis ruft jeden Tag mehrmals an. Sie hat schreckliche Angst, dass er es auf sie abgesehen haben könnte, und sie ist noch immer davon überzeugt, dass er auch Susanne Olsson umgebracht hat. Das sagt sie jedenfalls.«
Ich sehe, wie resigniert Markus ist, wie müde, aber ich sehe auch Wut. Ein Gefühl, das Markus fast niemals zeigt.
»Und das mit Malin?«
Er schüttelt den Kopf.
»Seltsamer Zufall, was? Dass sie in derselben Gruppe gelandet ist wie Henriks Verflossene. Falls es ein Zufall ist. Aber das glaube ich schon, denn der Mord ist mit allergrößter Wahrscheinlichkeit von einem Mann begangen worden, und außerdem hat Malin ein Alibi. Sie war an dem Tag, an dem Susanne ermordet wurde, bei irgendeinem Halbmarathon in Schonen.«
»Es soll also ein Zufall sein?«
»Was weiß ich? Gustavsberg ist ja nicht gerade riesig. Und sie sind im selben Alter. Da ist es ja wohl nicht ganz unvorstellbar, dass es ein Zufall ist.«
Markus zuckt mit den Schultern und massiert sich die Schläfen.
»Diese ganze Ermittlung hier ist doch ein verdammtes Drecksdurcheinander«, sagt er dann. »Die Presse zerfetzt uns wegen der Sache mit Henrik, weil wir ihn nicht sofort festgenommen haben, und alle wissen ganz genau, was wirklich passiert ist, und wollen diese Meinung öffentlich kundtun. Und im Grunde meinen sie alle, dass wir überhaupt nichts taugen.«
Wir stehen nebeneinander in der kleinen Küche. Markus, müde und wütend. Ich besorgt. Ich denke an Henrik, sein verwirrtes, gewalttätiges Verhalten. Die Vorstellung, dass er irgendwo ist, sich versteckt, abwartet, macht mir Angst, während ich zugleich einsehe, dass Markus Recht hat. Henrik ist vermutlich vor allem eine Gefahr für sich selbst.
Dann klingelt Markus’ Mobiltelefon. Ich fühle mich für einen Moment enttäuscht. Wir wollten den Abend doch zusammen verbringen. Mit größter Wahrscheinlichkeit führt dieser Anruf dazu, dass Markus wegmuss, vielleicht zu einer Vernehmung, vielleicht zu einem mutmaßlichen Täter. Er antwortet am Telefon nur einsilbig. Brummt vor sich hin und nickt kurz, ehe er das Gespräch beendet. Er wirkt gereizt, verärgert über das, was ihm gesagt worden ist. Er geht ins Wohnzimmer, schaltet den Laptop ein, der auf der Anrichte beim Fenster steht, und schreibt etwas. Gleich darauf taucht auf dem
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