Das Trauma
Bildschirm eine neue Website auf, und ich sehe die fettgedruckten Schlagzeilen von Aftonbladet: »Wird sie den Mörder ihrer Mutter fangen – neue Zeugin im Susannenmord: Tilde, 5«.
Patriks Tränen.
Die wie Bäche über die geröteten Wangen laufen. Die feuchte Flecken auf die zerfetzten Röhrenjeans malen.
Alle Zuversicht, alle Hoffnung vom letzten Mal sind verweht wie das Herbstlaub vor meinem Haus.
Er beugt seinen langen Körper zum gelbgesprenkelten Linoleumboden hinab. Geschlagen. Gezähmt. Vom Leben, von der Liebe.
Ich schiebe Kleenex über den Tisch, ebenso ohnmächtig wie immer. Versuche, Ordnung zu schaffen.
»Sie ist einfach weg. Ich glaube, sie fickt einen anderen. Verdammte miese Scheißfotze.«
Seine Stimme ebenso kraftlos wie sein Körper.
»Okay, jetzt von Anfang an. Was ist passiert?«
Ein Seufzer, und er lehnt sich zurück, liegt wie ein Fieberkranker in meinem Sessel. Als könnte er nicht aufrecht sitzen. Jeder Muskel bis zum Zerreißen angespannt.
»Vorgestern. Total scheißunglaublich. Als ich nach Hause kam … sie, sie … war am Packen. Einfach so. Und dann. Sie ist einfach gegangen. Hat mich und die Kinder verlassen. Einfach so. Scheiße …«
Sein knochiger Körper bebt.
»Was sagt sie selbst?«
»Ich! Hasse! Sie!«
Er schreit, und ich weiß, warum. Es tut so weh. Wenn ein Mensch, den man liebt, verschwindet. Gegen unseren Willen. Ich fühle so sehr mit ihm. Würde diesen schlaksigen Mann, diesen bärtigen Jungen, so gern in die Arme nehmen und ihn einfach wiegen.
Aber das geht natürlich nicht.
Er ist Klient, ich bin Therapeutin.
Unsere Rollen sind in Stein gemeißelt: Er sitzt in dem einen Sessel, ich in dem anderen.
Er weint, und ich schiebe Kleenex hinüber.
Er bezahlt, und ich höre zu.
»Okay, okay, okay. Das hat sie gesagt: Ich habe ihr geholfen, jetzt ist sie oben, sie ist wieder stark. Blablabla. Jede Menge Pisskram, wenn du mich fragst. Jetzt hat sie kapiert, dass sie mich nicht liebt. Und jetzt ist sie stark genug, mich zu verlassen. Dank meiner Hilfe. Ja, da sag ich doch vielen Dank!«
Er reibt sich das Gesicht mit Kleenex, wischt sich Rotz von Mund und Kinn, rollt die kleine nasse Papierserviette zu einem Ball und wirft damit nach dem Papierkorb. Den verfehlt er, und der Ball landet mit leisem Klatschen auf meinem chemisch reinen Boden.
Wir reagieren beide nicht.
»Außerdem ist das doch total unlogisch. Wenn hier jemand Grund zum Gehen hätte, dann ja wohl ich. Ich musste doch die ganze Zeit Geld verdienen, mich um die Kinder kümmern, während sie nur … Angst hatte. Auf dem Sofa gelegen hat. Gefressen hat. Wie eine fette dumme Kuh. Junkie. Wenn jemand Grund zum Gehen gehabt hätte, dann ja wohl ich. Nicht sie. Das ist … ungerecht.«
»Und wie haben Sie sich gefühlt, als sie gesagt hat, dass sie gehen will?«
»Wenn Sie noch so eine scheißblöde Frage stellen, dann bin ich gleich weg. Klar?«, knurrt Patrik verbissen. Aber es ist eine kraftlose Behauptung, eine Drohung ohne Biss. Er seufzt und schaut zur Decke hoch.
»Okay, okay. Das ist wie Sterben. Das ist wie Sterben und als ob sie mir mein Leben genommen hätte. Wir haben doch ein gemeinsames Leben, zwei Kinder. Wie kann sie nur? Das ist nicht richtig. Das ist … unnatürlich. Eine Mutter darf ihre Kinder nicht verlassen.«
Vor meiner Zimmertür streiten sich Aina und Sven. Ihre Stimme schrill, seine dumpf, ausdauernd. Er gibt nicht auf.
»So wie Ihre Mutter. Ich meine, in gewisser Weise hat sie Sie ja auch verlassen.«
»Nerven Sie hier nicht mit meiner Mutter rum!«, heult Patrik. »Hier geht es um Mia, verdammt noch mal.«
»Sicher, hier geht es um Sie und Mia, aber ein großer Teil Ihres Schmerzes hängt sicher auch mit den Erfahrungen zusammen, die Sie mit sich herumtragen.«
Patrik hört nicht zu. Er ist weit weg. Murmelt etwas Unhörbares und starrt den blanken Boden an.
»Was haben Sie gesagt?«, frage ich.
»Liebe.«
Er flüstert etwas.
»Liebe?«
» Love fucks you up.«
Und ich kann als Antwort nur nicken.
Patrik zeichnet mit seinem feuchten Schuh einen Strich auf den Boden, verwischt das schmutzig braune Wasser. Wie ein Kind, denke ich. Er sieht aus wie ein Kind. Ein aufgegebenes Kind, das aufgegeben hat.
»Und jetzt?«, frage ich.
Er sieht mich an. Leere rotgeränderte Augen und gerunzelte Stirn, er sieht verständnislos aus. Als ob ich ihn in einer fremden Sprache angeredet hätte.
»Jetzt?«
»Was passiert jetzt? Haben Sie darüber geredet?«
Er schüttelt
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