Das Trauma
doch nur Wörter, Wörter, Wörter.«
Ich schaue Aina überrascht an, während sie sich über den Beistelltisch beugt. Sie stellt eine Karaffe mit Wasser, Gläser und eine Thermoskanne mit Kaffee hin. Aina ist sonst keine, die zweifelt oder resigniert.
»Natürlich hat das, was wir tun, eine Bedeutung. Das weißt du. Dir sind viele Menschen begegnet, denen du geholfen hast. Du machst das, was du tust, gut. Sogar sehr gut.«
Aina schaut mich an, und ich sehe, dass ihre Augen rot und geschwollen sind. Sie hat geweint.
»Diese vielen Wörter.« Sie schüttelt den Kopf. »Es ist so, als füllten wir die Wirklichkeit mit Wörtern, um das zu erklären, was wir nicht verstehen können. Um unsere Dämonen zu bezwingen. Sie unter die Oberfläche zu drücken … aber eigentlich verändern wir nichts, wir halten uns die Dinge nur vom Leib. Wir können doch gar nichts verändern. Wir sind die, die wir sind, die Welt ist, wie sie ist. Was geschehen ist, ist geschehen.«
Sie schüttelt den Kopf, Tränen laufen ihr über die Wangen. Sie steht ganz still da, verzieht keine Miene, zeigt keine Reaktion. Nur diese Tränen.
»Verdammt, Siri, ich kann es nicht ertragen, an Hillevis Kinder zu denken. Dass sie mit diesem Vater weiterleben müssen, der sie schlägt. Dass ihre Mutter tot ist und dass sie auf der ganzen Welt nur den schlagenden Vater haben. Das ist doch schrecklich. Wahnsinn.«
Sie wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Reibt sie wie ein kleines Kind. Obwohl sie eine erwachsene Frau ist, sieht sie aus wie ein Mädchen. Eine verletzte, verlassene Fünfjährige. Ich gehe zu ihr, umarme sie. Drücke sie an mich. Spüre, dass sie am ganzen Körper vor Weinen zittert. Wir bleiben lange stehen, und ich lasse die Arme um Aina liegen, bis ihr Weinen aufhört.
Die Gruppe ist vollzählig: Malin, Sofie, Kattis und Sirkka. Und doch gibt es eine Leere, eine Abwesenheit, die greifbar ist. Hillevi war ein so starker Mensch, deutlich und sichtbar. Es ist eine unmögliche Vorstellung, dass sie nicht mehr da ist. Es ist, als könnte sie jederzeit durch die Tür treten, lächeln, sich für ihre Verspätung entschuldigen und sich dann auf ihren Platz setzen.
»Warum haben Sie ihren Stuhl weggenommen?« Sofie stellt diese Frage, sie klingt wütend, trotzig.
»Wir haben gedacht, dass Hillevi nun einmal nicht mehr da ist. Dass es nicht hilft, das zu leugnen.« Aina erwidert Sofies Blick, fest, ernst sieht sie Sofie an, die langsam nickt und dann in eine andere Richtung schaut.
Langsam beginnt Aina, über Hillevis Tod zu sprechen. Darüber, was bei unserer letzten Begegnung geschehen ist. Zuerst spricht sie zögernd, stockend, aber dann kommen die Wörter immer schneller. Sie führt uns die Szene noch einmal vor. Henrik, wütend und verrückt, mit der Waffe. Hillevi, die versucht, ihn zur Vernunft zu bringen.
Aina redet, und wir hören zu. Stumm, gefangen von ihren Worten.
Plötzlich schaltet Sofie sich ein, bestätigt etwas, das Aina gesagt hat. Identifiziert sich mit einem Gefühl. Und dann legt die ganze Gruppe los. Passive stumme Zuhörerinnen verwandeln sich jetzt in aktive Teilnehmerinnen, die ihr Inneres, ihre Angst, ihren Schmerz nach außen stülpen. Die sich auf ungeahnte Weise nahekommen. Und gemeinsam können wir sie in die richtige Richtung lotsen. Können die Kontrolle über die Gruppe behalten, dafür sorgen, dass jede zu Wort kommt und gesehen wird, gehört. Können Kattis’ Angst auffangen, Malins Zorn, Sofies Kummer und Sirkkas stummen Ernst. Ihre Gefühle einfangen, bis die Gruppe bereit ist, weiterzumachen.
»Eins ist seltsam. Ich weiß ziemlich viel über euch alle, nur über dich nicht, Sirkka. Das ist ein seltsames Gefühl. Ich wüsste wirklich gern … möchte wissen, warum du hier gelandet bist. In unserer Gruppe.«
Malin fährt sich mit der Hand durch die Haare, schiebt sie hinter die Ohren. Die Gruppe ist zur Ruhe gekommen. So, als wären alle Gefühle ans Licht geholt und das Bedürfnis geweckt worden, über etwas anderes zu sprechen. Ich schaue Sirkka an, sie zupft an ihrer Nagelhaut, mustert kritisch den hellen Nagellack, sucht Fehler, obwohl es keine Fehler gibt.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich hatte einen miesen Kerl, der mich geschlagen hat, wenn er unzufrieden war, und das war er immer.«
Ein tiefer, resignierter Seufzer.
»Wie habt ihr euch kennengelernt?« Sofie schaltet sich ein. Schaut die viele Jahre ältere Sirkka an, versucht zu verstehen und will verstehen, wer sie ist,
Weitere Kostenlose Bücher