Das unendliche Blau
Lina reiste immer mit leichtem Gepäck. Ihre langen dunklen Locken hatte sie im Nacken zusammengezwirbelt und mit einer Hornspange hochgesteckt. Sie trug Jeans und ein schwarzes, eng anliegendes Shirt, und irgendetwas erinnerte Martha an eine andere Frau, als sie ihrer Tochter nachsah, die sich mit schnellem Schritt und ihrer Bordkarte zum Gate begab.
Sollte sie Francesca zu ihrem Geburtstag einladen? Die Frage nahm sie mit in die Parkgarage, wo ihr alter Lancia stand. Sie hatte ihr seit dem Tag in Triest einmal gemailt und sich bedankt für den schönen Tag am Meer.
Francescas Antwort war knapp ausgefallen. »Hey, über Höflichkeitsfloskeln sind wir doch längst hinaus«, hatte sie geschrieben. Und: »Pass auf dich auf.« An dem Abend war Martha mit Freunden ins Kino gegangen, und Francescas »Pass auf dich auf« begleitete den Film wie ein ständig wiederkehrender Untertitel. Das war im Juni gewesen. Ihr Geburtstag fiel auf den neunten September.
Der Anruf war am sechsten September gekommen. Manchmal kommen Anrufe aus dem Hinterhalt. Zugriff nennt man so was bei der Polizei, eine Art Stürmung des Lebens mit vollem Waffeneinsatz, ohne dass die betreffende Person weiß, wie ihr geschieht.
Martha hatte am Schreibtisch gesessen und ein Interview redigiert, als das Telefon klingelte. Sie ließ sich ungern bei der Arbeit stören und überlegte schon, den Anrufbeantworter einzuschalten. Doch dann nahm sie den Hörer ab. Das »Hallo«, das sie hineinbellte, klang unwillig.
Ihre Ärztin war dran, und sie meldete sich mit einem Satz, der sich hinter Marthas Stirn einfräste und dort wie in einer Endlosschleife zur ständigen Wiederholung ansetzte. »Der Befund ist leider wieder positiv.«
Sie wusste, was das bedeutete. Vor einem guten Jahr hatte es angefangen, diese Sache, wie sie es nannte. Angefangen mit einem harmlos aussehenden Muttermal. Sie hatte nicht lang gezögert damals und einer Operation zugestimmt. Als die Ärzte etwas von Metastasen in den Lymphgefäßen sagten, verdrängte sie wild wuchernde Ängste mit Pragmatismus. Dieser Pragmatismus hatte bereits so oft in ihrem Leben geholfen. Jetzt sollte er gefälligst beweisen, dass er mit Panikattacken fertig wurde.
»Dann schneiden Sie eben alles heraus«, hatte sie den Ärzten geantwortet und dabei das Zittern in ihrer Stimme zurückgepfiffen. Sie hatten getan, was sie von ihnen verlangt hatte. Und sie waren in Deckung gegangen bei Marthas anschließenden Fragen nach Überlebenschancen. Hatten sich versteckt hinter Computerausdrucken, auf denen Innenansichten von Marthas Körper neben Zahlenkolonnen zu sehen waren. Werte nannten sie das, und Martha fand dieses Wort fast zynisch angesichts dessen, was sie zu verkünden hatten. Dreißig Prozent – die Zahl hatte sie endlich einem jungen Assistenzarzt abgerungen, und damit war sie wieder in ihren Alltag entlassen worden.
Sie erzählte niemandem, was mit ihr los war. Den Klinikaufenthalt schraubte sie zur Lappalie herunter. Nur einmal, als eine Chefredakteurin von ihr eine Brustkrebsgeschichte wollte, lehnte sie ab. Redete sich heraus mit anderen Aufträgen, die ihr keine Zeit ließen.
Einmal im Vierteljahr musste sie fortan zu Kontrolluntersuchungen. Dreimal war es gutgegangen; sie bekam dieses erlösende »Alles in Ordnung« stets per Telefon verabreicht; das letzte Mal hatte sie es vor ihrer Reise nach Triest gehört, und sie hatte die dreißig Prozent Hoffnung mit in die Stadt am Meer genommen und dort ein fast trotziges Mit-mir-nicht ins Wasser geworfen.
Nein, sie wollte gar nicht den großen Deal mit dem Leben, nicht das große Glück. Sie wollte nur so weitermachen wie bisher, wollte ihre gewohnten Bahnen ziehen – bis Francesca sie auf der Mole ansprach. Bis diese kleine dünne Frau diese gottverdammten Fragen stellte, dabei das Pik-Ass aus Marthas Kartenhaus zog und es ihr, den Einsturz in Kauf nehmend, vor die Füße legte. Martha hatte seitdem nicht aufgehört, sich angesichts dieser Trumpfkarte zu fragen, ob sie wohl bisher mit zu niedrigem Einsatz gespielt hatte. Ist ja noch alles drin, hatte sie sich beruhigt – und erst mal ihre Geburtstagsfeier geplant.
»Was heißt das?«, stammelte sie nun in den Telefonhörer, obwohl sie genau wusste, was das hieß.
Die Ärztin räusperte sich, und Martha hörte diesem Räuspern an, dass es vorbereiten wollte, was sich Worten nur allzu gern feige widersetzte. Die Frau, die am anderen Ende der Leitung den Befund in der Hand hielt, versuchte,
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