Das unendliche Blau
einschlug, in der ihr Hotel lag. Die Luft fühlte sich lau an; es lag ein Versprechen von Sommer darin.
Als Martha am nächsten Vormittag in ihr Flugzeug nach Hamburg stieg und mit der Bordkarte in der Hand ihren Platz suchte, tauchte das Bild von Francesca wieder vor ihr auf. Genau genommen hatte es sie seit gestern Abend nicht mehr losgelassen. Diese Frau war für einen Nachmittag in ihr Leben gefallen und hatte sich darin umgesehen. Und Martha hatte bereitwillig Türen geöffnet. Hatte seit langem erstmals wieder Fragen zugelassen. Fragen, deren Antworten sie sonst auswich. Weil sie sich die Antworten nicht geben wollte. Antworten, die so etwas wie Ruhestörung im Untertitel führten.
War das bereits alles? Was kommt noch? Bin ich glücklich?
Sie zurrte ihren Sicherheitsgurt fest. Und sie wusste, dass sie darauf nur ein müdes Schulterzucken im Ärmel hatte. War Glück nicht den Psychoseiten der Zeitschriften vorbehalten, für die sie normalerweise ihre Artikel schrieb? Ein dankbares Thema, aber für den Hausgebrauch ungeeignet?
»Es gibt den freien Willen«, hörte sie Francesca sagen. Ihrer war irgendwann verlorengegangen, und sie hatte sich eingeredet, das sei nun mal so. Die Suche nach Selbstverwirklichung kann man sich vielleicht im Alter von Lina noch leisten, aber mit fast fünfzig? Da hat man doch die Reiseflughöhe erreicht und darf sich nicht mehr ernsthaft fragen, ob man beim Einchecken den falschen Flieger erwischt hat. Und dann stellt diese Francesca ein paar Fragen, und plötzlich fangen bei diesem ach so sicher scheinenden Flug die Warnleuchten zu blinken an. ›Meine Damen und Herren, wir haben Turbulenzen, der Pilot kann sich das zwar auch nicht erklären, aber halten Sie schon mal die Sauerstoffmasken bereit …‹
Martha schüttelte den Kopf und verstaute Lesebrille und Buch in dem kleinen Fach vor sich, hinter der Spucktüte. Und während sie das tat, zog der Himmel draußen graue Wolken auf und verhängte das Blau der letzten Tage.
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3
S ie hatte Tage damit zugebracht, die Liste der Leute zusammenzustellen, die sie zu ihrem Geburtstag einladen wollte. Manche hatte sie wieder gestrichen, andere hinzugefügt, und bei denen, die sie gestrichen hatte, hatte sie das schlechte Gewissen gleich mit ausradiert. Es gab sie, diese Menschen, die ein Stück weit mit ihr gegangen und dann am Wegesrand liegen geblieben waren, um den Daumen rauszuhalten für den Nächsten, der vorbeikommt. Sie wollte nicht aus lauter Sentimentalität das Strandgut ihrer Vergangenheit einsammeln. Und während sie die Namen auf der Gästeliste sortierte, fragte sie sich immer wieder, was eigentlich ihre Gegenwart ausmachte. Die Antwort auf diese Frage hielt sich bedeckt. Manchmal konnte selbst das eigene Ich gnädig sein.
Es sollte eine nicht zu große Feier werden. Und sie sollte zu Hause stattfinden. Keine festlich gedeckten Tische mit Platzkarten in irgendeinem dieser derzeit so angesehenen Landgasthöfe. Schließlich hatte sie die Einladungen rausgeschickt; es waren schlichte Karten, ohne Anspielungen auf das halbe Jahrhundert Leben, das nun hinter ihr lag. Diese Fünf, die da eine Null unterhakte, konnte sie nicht einfach mit einem lässigen Achselzucken auf die Tanzfläche der nächsten Jahrzehnte schicken.
Stattdessen lenkte sie sich ab. Beauftragte den ortsansässigen Feinkosthändler damit, sich um das Essen zu kümmern – Lachs mit Sahnemeerrettich und Roastbeef mit Remoulade und eingelegtes Gemüse, das sich Antipasti nannte. Sie kannte sein Sortiment und ratterte die Bestellung herunter wie auswendig gelernte Vokabeln. Gemeinsam mit Lina besorgte sie Grauburgunder und Merlot. Und zum Anstoßen Crémant; der war besser als dieser banale Prosecco, den es sonst überall gab.
Sie erledigte alles rechtzeitig; das tat sie mit sämtlichen Dingen so. Sie schob nichts auf; selbst ihre Artikel lieferte sie meist vor dem vereinbarten Termin ab. Es gab Kollegen, die sie damit aufzogen, aber das quittierte sie mit einem Lächeln. Schreiben sei Disziplin, behauptete sie. Sie hielt nichts von Journalisten, die ihre Kreativität hätschelten wie einen chinesischen Palasthund.
Nachdem sie ihrer Mutter bei den Vorbereitungen geholfen hatte, war Lina für drei Wochen zu Freunden nach Schottland gefahren. Sie hatte ihr versprochen, pünktlich an dem großen Tag wieder zurück zu sein. Martha brachte sie zum Flughafen und schaute ihr zu, als sie ihren kleinen blauen Koffer beim Check-in auf die Waage legte.
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