Das unendliche Blau
plötzlich und zeigte auf das Foto auf dem Schreibtisch.
Die Ärztin sah sie verwirrt an. Sie war hübsch. Eine hübsche Frau Ende dreißig, mit blassem Sommersprossengesicht und kurz geschnittenen blonden Haaren. »Ja«, stammelte sie. »Ja, das sind meine Töchter.«
»Wie heißen sie?«
»Marie und Constanze.«
»Nette Mädchen.«
»Ja, aber ziemlich frech für ihr Alter.«
Martha lächelte. »Ist kein Nachteil. Ich meine fürs Selbstbewusstsein.«
»Davon haben die zwei mehr als genug.« Ihre Gesichtszüge entspannten sich. Die Sommersprossen sahen fast fröhlich aus.
»Können Sie das eigentlich immer alles hierlassen?«, fragte Martha leise. »Diese ständigen Befunde und Todesurteile? Kann man das abends ausziehen wie seinen weißen Kittel und an den Haken hinter der Tür hängen? Wie ist es, nach Hause zu kommen und seinen Kindern Pfannkuchen zu machen und Gutenachtgeschichten vorzulesen, nachdem man gerade einem Menschen gesagt hat, dass er bald sterben muss?«
Die Frau sah sie an, und Martha hatte das Gefühl, sie würde sie in diesem Moment zum ersten Mal richtig wahrnehmen. »Es ist schwer«, sagte sie. Mehr sagte sie nicht.
Martha stand auf. »Darf ich mir die Sache mit der Chemo ein paar Tage überlegen?«
»Ja, ja, natürlich.«
»Ich … ich bin mir nicht so sicher, ob … ob ich das wirklich will.«
»Verstehe.« Die Ärztin erhob sich ebenfalls.
»Hab ich …«, Martha biss sich auf die Unterlippe, »hab ich überhaupt noch den Hauch einer Chance?«
»Wollen Sie wissen, was ich an Ihrer Stelle täte?«
»Und wollen
Sie
damit andeuten, dass wir jetzt gerade mal das Arzt-Patienten-Gespräch verlassen?«
Die Frau lächelte. Das Lächeln stand ihr gut, fand Martha. »Na ja, man könnte das so sehen …«
»Und?«
»Es bleiben Ihnen noch ein paar Monate.«
»Wie viele?«
»Vielleicht vier, sechs … mit viel Glück wird’s ein Jahr.«
»Nicht gerade der Jackpot.« Martha lachte. Sie hatte das immer getan – bei Katastrophen, die andere in die Schockstarre trieben, hatte sie immer gelacht. Auch damals, als sie erfahren hatte, dass ihr Mann sie betrog, hatte sie gelacht. Ein Lachen, mit dem seine Tränen kollidierten. Warum fiel ihr das ausgerechnet jetzt ein?
»Mit den entsprechenden Schmerzmitteln könnte es Ihnen, sagen wir mal, den Umständen entsprechend relativ gutgehen«, unterbrach die Ärztin ihre Gedanken.
»Bis zum Schluss?«
»Ja. Sie würden schwächer werden, das schon, aber …«
»… keine Kotzerei, keine Appetitlosigkeit, keine ständige Müdigkeit?«
»Nein. Dafür aber einige Monate weniger Leben.«
»Leben?«
Die Frau sah kurz auf das Foto mit ihren beiden Töchtern und dann auf den Befund vor sich, auf diese Zahlen, die ein
open end
gerade mal ins Reich der Illusionen gescheucht hatten. »Wissen Sie, Frau Schneider, es gibt zwei Arten von Patienten. Die einen wollen alle nur denkbaren Therapien, um noch ein paar Monate, Wochen, Tage mehr zu gewinnen. Selbst wenn der Preis dafür ein hoher ist.«
»Und die anderen?«
»Tun das, was noch zu tun ist.«
»Die berühmte Weltreise?«
»Das ist doch nur ein Synonym. Jeder hat seine eigene Weltreise im Kopf. Es gibt Leute, die gehen in ihren Garten, weil sie den Rosen noch einmal beim Aufblühen zusehen wollen.«
Martha streckte ihr die Hand entgegen. Die Ärztin ergriff sie und hielt sie einen Moment länger fest als sonst. »Ich denke, Sie wissen, was zu tun ist«, sagte sie.
»Danke.«
»Wofür?«
»Sie haben mir gerade geholfen.«
»Na ja, ich bin Ihre Ärztin.«
»Vielleicht waren Sie heute mehr als das. Ich melde mich in den nächsten Tagen bei Ihnen.« Den letzten Satz nahm sie bereits mit auf den Weg zur Tür. Sie warf ihn über die Schulter, bevor sie in den Klinikflur hinaustrat.
Was sie an diesem Nachmittag und an dem darauffolgenden Abend und an den beiden Tagen vor ihrem Geburtstag noch getan hatte, erschien ihr im Nachhinein, als hätte irgendein inneres Abwehrsystem eine dichte Nebelbank davorgeschoben.
Sie hatte viel Kaffee getrunken und viele Zigaretten geraucht. Sie hatte versucht, das Interview fertig zu redigieren, und das erste Mal in ihrem Berufsleben einen Abgabetermin nicht eingehalten. Sie hatte ihr Handy aus- und ihren Anrufbeantworter eingeschaltet. Und sie war an den Strand gefahren. Dorthin, wo sich das Meer Winter für Winter mehr von der Steilküste holte. So eine Art nimmersattes Nagen. Sie hatte vor dieser zerklüfteten Wand gestanden, an dessen
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