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Das Unglück der kleinen Giftmischerin

Titel: Das Unglück der kleinen Giftmischerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Wulff
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trank er nur mäßig, aber im holländischen Knast hatte er sich an einen regelmäßigen Haschischkonsum gewöhnt, den er auch in Freiheit fortsetzte. Sein Bekanntenkreis bestand zum größten Teil aus ehemaligen Knackis, wohl auch deshalb, weil er gleich nach seiner Freilassung von einer Gefangenenhilfs- und Selbsthilfeorganisation betreut worden war und da eben hauptsächlich seinesgleichen kennen gelernt hatte. Im Kreise dieser Kumpane gab er mit seinen früheren Taten an. So kam es, dass er, um sein Ansehen bei ihnen nicht zu gefährden, wieder etwas unternehmen musste. Zwei Jahre nachdem er in Deutschland wieder ansässig war, überfiel er den an der holländischen Grenze gelegenen Großmarkt. Aber erst bei der Hauptverhandlung gab er zu, diese Tat begangen zu haben.
    Manches an dieser Lebensgeschichte klang für mich überzeichnet und wenig glaubhaft. Aber die bis zum Prozessbeginn vollständig eingegangenen kanadischen Akten bestätigten das meiste. Ihnen beigefügt waren die Zeitungsausschnitte, die Großmann als Kanadas damaligen »public enemy number one« bezeichneten und auch über seinen Hubschrauberangriff berichteten. Die kanadische Strafverteidigerin erschien zwar nicht zur Verhandlung, dafür war aber Professor Vloeßmann zugegen und sagte aus, dass er Großmann tatsächlich als Tutor für Kriminalistik beschäftigt hatte. Ausgenommen die kleinen kosmetischen Erinnerungskorrekturen, wie sie jedermann an seiner Lebensgeschichte vornimmt, mussten Großmanns Schilderungen also, so weit sie überhaupt überprüfbar waren, als im Großen und Ganzen zutreffend betrachtet werden. Auf die Frage des Vorsitzenden Richters an Vloeßmann, ob er Großmann für einen gefährlichen Täter halte, antwortete dieser: »Aber nein, er ist ein freundlicher, kreativer, großzügiger Mensch, der nur, wenn er sein Leben bedroht glaubt, jemandem etwas zuleide tun könnte.«
    Nicht nur auf den holländischen Kriminologen, auch auf mich wirkte Großmann eher sympathisch. Die Verlassenheit der Waisenhausjahre hatte eine narzisstische Traumwelt in ihm erstehen lassen, deren Versprechen von keiner Alltagsrealität mehr eingelöst werden konnten. Die Schäbigkeit und Gefühlsrohheit in der wieder gefundenen Familie, die erdrückenden Zwänge und die Gewalttätigkeit in den kanadischen »Erziehungsheimen«, die in krassem Widerspruch zu seinen Träumen standen, hatten zu einem explosiven Bedürfnis nach Weite, Freiheit und Glück und zu einer Selbstkonstruktion als eine Art Supermann geführt, der zum Himmel aufsteigen, durch Mauern gehen und sich an den Reichtümern dieser Welt völlig frei bedienen kann. Nur durch solche Taten konnte für einen Augenblick die Wunde geschlossen werden, die seine Kindheit in ihm gerissen hatte, erst in ihnen fand er, nach seinen eigenen Worten, seine Identität wieder und konnte sich selbst spüren. Und wahrscheinlich hat der regelmäßige, verhältnismäßig hoch dosierte Haschischkonsum solche Empfindungen noch intensiviert. Auch die psychologische Testuntersuchung ergab eine »narzisstisch gestörte Persönlichkeit mit übersteigertem Größenselbst«. Großmann identifizierte sich freilich mit seiner »Störung«, diese war zum Motor seiner Persönlichkeit geworden, zu demjenigen, was ihn antrieb und was ihn im Innersten zusammenhielt, und so frage ich mich heute, ob das Wort Störung hier nicht fehl am Platze war. Aber zusammen mit dem unwiderlegten Cannabiskonsum am Tattage erlaubte es mir diese psychiatrische Diagnose doch, dem Gericht zu empfehlen, eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt nicht auszuschließen. Auf der anderen Seite musste ich einräumen, dass bei Großmann ein Hang zur Begehung erheblicher Straftaten bestand. Das Gericht verfügte gleichwohl keine Sicherheitsverwahrung, weil es die kanadischen Vorstrafen, die ja für ungesetzlich erklärt und nicht nochmals neu verhandelt worden waren, nicht berücksichtigen konnte. So erhielt Großmann wegen Mordversuches eine Gefängnisstrafe von neun Jahren.
    Ein Jahr später sah ich ihn anlässlich der Untersuchung eines anderen Gefangenen in der Haftanstalt, in der er einsaß, zufällig wieder. Er begrüßte mich freudig und sagte mir lachend: »Herr Professor, Sie sind der Einzige, der mich verstanden hat.« Und ich wusste nicht ganz genau, ob das ein Ritterschlag war oder er sich nur über mich lustig machen wollte.

 
    Die Steinigung
    Im Dezember 2000 bot ein wegen Heroinhandel festgenommener

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