Das Unglück der kleinen Giftmischerin
alles im Heim erlebt hatte, und der machte daraus eine Artikelserie.
Natürlich kam mir der Verdacht, die Geschichte, die ich jetzt von ihm hörte, spiegele eher seine Erinnerung an diese Artikel als sein eigenes unmittelbares Erleben wider. Ein Verdacht, der seinen Widerhall in meiner Erfahrung mit meinen eigenen Erinnerungen fand: Hatte ich mich doch öfter dabei ertappt, dass sich auch die »Wahrheit« meiner Vietnamjahre, ja die meiner ganzen Lebensgeschichte aus den Büchern speiste, die ich darüber geschrieben und veröffentlicht hatte. Vielleicht hatte auch Großmann seine Geschichte dramaturgischen Gesetzen unterworfen, vielleicht sogar manches übertrieben, um seine Story dem Zeitungsmann schmackhafter zu machen. Jedenfalls hatte er mit seiner Geschichte insofern Erfolg, dass der Journalist ihm eine Anstellung beim Abonnentenservice des Blattes vermittelte. Dort lernte er seine erste Freundin kennen, eine junge Indianerin, die Lehrerin werden wollte und an der Zeitung ein Praktikum machte. Um ihr zu imponieren, wollte er sich schicke Kleider kaufen, was über seine finanziellen Mittel ging. Aber ihr waren solche Äußerlichkeiten egal, »sie liebte mich so, wie ich war«, sagte er, zum ersten Mal sei ein kleiner Widerschein von Glück auf ihn gefallen. Als man von ihm verlangte, auch die Ausweispapiere der Leute zu kontrollieren, die in die Redaktionsräume hereinwollten, weigerte er sich, weil er kein Hilfspolizist sein wollte, und verlor seine Stelle. Aus Geldmangel klaute er Lebensmittel in einem Supermarkt und musste, nachdem er erwischt worden war, sich wöchentlich bei der Polizei melden. Das rief viele unangenehme Erinnerungen in ihm wach und brachte ihn dazu, Toronto zu verlassen und an die Westküste nach Vancouver zu trampen. Den Kontakt zum Elternhaus hatte er inzwischen völlig verloren.
Die Trampfahrt quer durch den ganzen nordamerikanischen Subkontinent sei, so Großmann, »die einzige Zeit gewesen, wo ich wirklich frei war«. In Vancouver fand er zwar Arbeit, zerstritt sich aber mit seinem Vorarbeiter und flog deshalb heraus. Aus Wut darüber, aber auch auf die Mutter und die Erziehungsanstalt kaufte er sich einen Revolver und begann Hotels zu berauben.
Als das gut ging, versuchte er es mit Banken und hatte auch da zwölf Mal Erfolg. Im Radio und im Fernsehen sprach man fast täglich von ihm als von einem tollkühnen Täter. »Indem ich das tat«, sagte Großmann, »fand ich überhaupt erst meine Identität, ich spürte mich, wenn sie im Fernsehen von mir redeten, vorher war ich nur ein Nobody.«
Bei dem letzten Bankraub dieser Serie wurde Alarm ausgelöst und Großmann schoss auf zwei Polizisten. Er hätte sie nicht töten, sondern nur verhindern wollen, dass sie ihn erschießen. Einer der Beamten wurde verletzt. Während der andere sich um seinen am Boden liegenden Kollegen kümmerte, konnte Großmann mit dem Geld entkommen. Bei der nun einsetzenden Verfolgungsjagd nahm er einen Taxi- und mehrere Autofahrer hintereinander als Geiseln. Schließlich ließ er sich zum Yachthafen bringen und kaperte eine luxuriöse Motoryacht. Deren Besitzer war, wie der Zufall so spielt, der Präsident der Bank, die er gerade überfallen hatte. Großmann zwang ihn, nach Süden zum nächsten US-amerikanischen Hafen zu fahren. Dort wurden sie allerdings schon erwartet und er bekam eine zwanzigjährige Haftstrafe.
Im Gefängnis nahm er schon bald ein paar Wächter als Geisel und versuchte sich so den Weg zurück in die Freiheit zu erzwingen. Das scheiterte und man verlegte ihn in ein Hochsicherheitsgefängnis nach Quebec. Nach mehreren vergeblichen Geiselnahmen gelang ihm 1978 nach acht Jahren Haft die Flucht. Dem folgte ein gutes Dutzend erfolgreicher Banküberfälle innerhalb von 90 Tagen, die aus Großmann vollends einen Star machten: Das Fernsehen erklärte ihn zu Kanadas »Public enemy number one«. Bei einem der Überfälle kaperte er zusammen mit einer Freundin einen Hubschrauber. »Ich bin dann wie ein Vogel heruntergeschwebt und wir sind auf einem Parkplatz vor der Bank gelandet. Das Mädchen hat auf den Piloten aufgepasst und ich habe das Geld rausgeholt. Dann waren wir wieder in den Wolken verschwunden«, so erzählte mir Großmann diese unglaubliche Geschichte. Bei den Vorbereitungen für den nächsten Hubschrauberangriff - diesmal wollte er Freunde aus dem Hochsicherheitstrakt herausholen - wurde er aber festgenommen: Einer seiner Freunde hatte den Mund nicht halten können. Von 1979 bis 1984,
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