Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
Inneren.
Tief in unerfreuliche Gedanken versunken kehrte Atlan in seine Gebetsstätte zurück. Die Bilder des Brandes suchten ihn immer wieder heim, egal wie sehr er versuchte, seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken. Bei Nioves Tod hatte er nichts als ohnmächtige Wut und Schmerz empfunden. Ihr Leben war grausam beendet worden, und die Schuldigen waren noch auf freiem Fuß, was ihn Tag und Nacht quälte.
Doch auch wenn er nicht derjenige gewesen war, der das Feuer verursacht hatte, fühlte er heute nur eine gewaltige Schuld, die unerträglich schwer auf ihm lastete. Wie sollte er seinen Anhängern ein Vorbild sein, wenn er selbst von einer Sünde beladen war, die so viel schwerer wog als viele der Dinge, gegen die er gepredigt hatte?
In seinem Selbstmitleid übersah er die Frau, die in einer Seitengasse des Gebetshauses auf ihn gewartet hatte. Erst als sie nach ihm griff, sah er auf. Entsetzt zuckte er zurück. Die groben Tücher, in die sie gehüllt war, ließen ihr Gesicht frei, durch das sich tiefe Narben zogen.
Eine Reine.
Reflexartig zog Atlan den Arm zurück und versuchte, sich von ihr zu lösen, doch ihre verstümmelten Hände hielten seine Robe in eisernem Griff. Angst, Widerwillen und Mitleid kämpften in ihm um die Vorherrschaft. Er kannte sie, hatte ihr oft genug Speisen in der Dunkelheit der Gasse gegeben. Aber ihr jetzt gegenüberzustehen … Ihre Leute hatten Niove niedergemetzelt, gequält, ermordet. Der Gedanke allein brach ihm erneut das Herz.
Er konnte und wollte der Reinen nicht helfen. Doch zu seinem Erstaunen war es keine Spende, um die sie bat.
„Hab keine Angst, Junge. Ich will dir nichts tun. Aber ich bitte dich – du musst mich anhören!“
Noch einmal versuchte er, sich loszureißen. Diesmal ließ sie es zu, sodass er unsicher und verlegen vor der kleinen Frau stand. Ihr fester Blick traf den seinen, und plötzlich wandelte sich der Schmerz in seiner Brust. Aus dem alles verschlingenden Rasen wurde ein sehnsüchtiges Ziehen, als er im Tageslicht zum ersten Mal ihre Augen sah. Liebevolle Augen in sanftem Grün, nicht so strahlend wie Nioves, aber trotzdem seltsam vertraut. Wie der Ursprung eines Schattens, den man sein Leben lang verfolgte, ohne jemals nachzusehen, woher er eigentlich kam.
Nicht fähig, etwas zu erwidern, ließ er sich von ihr widerstandslos zur Gebetsstätte führen. Immer wieder sah er sich um, aus Angst, einer der Abtrünnigen könnte ihn zusammen mit der Reinen sehen. Er war froh, als er den Schlüssel im Schloss umdrehen und durch die Tür ins Innere des Hauses schlüpfen konnte.
In der dort herrschenden Dunkelheit stockte ihm jedoch der Atem. Wohl fühlte er sich mit der Puristin an seiner Seite bereits dann nicht, wenn er sie sehen konnte. In den wenigen Sekunden, die es dauerte, bis sich der Sensor an der Tür aktivierte und die Lampen aufflammten, war er in der Finsternis alleine mit ihr und der Ungewissheit. Schauer krochen ihm wie kalte Finger den Rücken hoch, doch als das Licht anging, sah er nur ihr abwartendes Gesicht an seiner Seite. Der unbeteiligte Ausdruck, der darauf lag, ließ sie noch unheimlicher erscheinen. Es war eindeutig nicht das, was sie empfand.
Nur eine Maske, die sie angelegt hatte. Er fragte sich, was sie darunter verbarg.
„Du urteilst streng, Priester. Und du hast Recht. Aber deine Strafe trifft nicht nur die Schuldigen.“
Misstrauisch beäugte er die Frau. So rasch also war aus dem „Junge“, das seine langjährigen Gläubigen oft noch benutzten, wenn es um vertrauliche Dinge ging, eine offizielle Anrede geworden. Sie wollte eben doch nur Spenden, aber die würde sie von ihm nicht mehr bekommen.
„Willst du mir weismachen, dass es nicht Puristen waren, die Ni… die Klonin ermordet haben, und die jetzt plündernd und schlagend durch die Straßen ziehen?“
„Vieles davon geschieht auf Befehl deiner Glaubensbrüder, das weißt du.“
Atlan wollte aufbrausen, doch mit einer ruhigen Geste brachte sie ihn zum Schweigen.
„Es war nicht deine Entscheidung, so wie es nicht die Taten aller Puristen waren. Du verurteilst uns alle für die Verbrechen von einigen wenigen, die in deinen Reihen ebenso zu suchen sind wie in den unseren.“
Er wollte sie mit einem einfachen Kopfschütteln abweisen, aber dann erinnerte er sich an Perons Erzählung. Der Verhüllte war aufgebracht gewesen, als Lorio den Kontakt zu dem Attentäter verlangte. Vielleicht sagte sie die Wahrheit, aber …
„Wenn ihr es nicht gutheißt,
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