Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
warum wehrt ihr euch dann nicht? Wir haben uns abgespalten, wieso tut ihr nicht dasselbe?“
Ein resigniertes Seufzen drang aus der kleinen Frau, das viel zu groß für sie zu sein schien. „Weil ihr viele seid, die gegen wenige rebellieren. Wir aber sind wenige, die ohne die Hilfe der anderen nicht überleben können. Was hilft es, für eine Überzeugung zu kämpfen, wenn man dafür zusehen muss, wie die eigenen Kinder verhungern?“
Atlan schluckte schwer, um den Kloß in seinem Hals hinunterzuwürgen, doch es half nichts. „Kinder?“, fragte er heiser. Daran hatte er bisher nie gedacht, aber dadurch hatte er sich natürlich nur selbst belogen. Es musste Kinder geben – alle Puristen waren Natürlichgeborene.
Sie legte den Kopf schief – eine Bewegung, die tief in ihm etwas auslöste. Eine Erinnerung an ein Gefühl, das er nicht benennen konnte. „Ja Atlan, Kinder. Deine Brüder und Schwestern.“
„Meine …“ Er stutzte. „Woher kennst du meinen Namen?“ Selbst wenn Ektor ihn vielleicht vor den Gläubigen einmal beim Namen gerufen hatte, doch sicherlich nicht während der Armenspeisung!
Etwas wie Schmerz huschte durch ihre Augen, um gleich darauf wieder hinter der Maske aus Distanziertheit zu verschwinden.
„Ich war diejenige, die ihn dir gegeben hat.“
Es war ein Gefühl, als hätte man ihm einen Eimer voll Eiswasser über den Kopf geleert. Unvermittelt sah er sich wieder als Kind in den dunklen Eingang spähen, fühlte die warme, weiche Hand, die ihn dorthin geführt hatte. Aber als er diesmal zu der Person neben sich aufsah, sah er das Gesicht der Reinen. Viele Jahre jünger und um einige Narben ärmer, doch unverkennbar.
Er keuchte, denn das Kältegefühl schnürte ihm die Brust ab und jagte einen Schauer nach dem anderen durch seinen Körper.
„Du bist …“, stammelte er. „Du lebst? Aber wieso … Haben sie mich dir weggenommen?“
Üblicherweise wurden den Priestern Kinder übergeben, die verwaist waren oder deren Eltern nicht über die Möglichkeiten verfügten, um sie zu ernähren. Doch Ramin hatte ihm gestanden, dass schon manches Kind, das sie allein auf der Straße gefunden hatten, einfach mitgenommen worden war, ohne nach dem Verbleib der Familie zu fragen.
Aber der Verhüllte war bei jeder Musterung dabei, sicherlich hätte er doch ein Kind aus seiner Gruppe erkannt und Anspruch auf ihn erhoben …
Seine Mutter senkte den Kopf. „Sie haben dich nicht geholt. Ich war es, die dich weggeschickt hat. Ich habe Xenos gebeten, dich ins Kloster zu bringen.“
Ein Stich fuhr in Atlans Herz. Obwohl er all die Jahre geglaubt hatte, keine Eltern zu haben, hatte er sich doch immer heimlich nach einer liebevollen Mutter gesehnt. Und nun stand sie hier, vernarbt, verlebt – und bestätigte, dass sie ihn nicht gewollt hatte.
Gegen seinen Willen stiegen Tränen in seine Augen. Er blinzelte, um sie gemeinsam mit seinen wirren Gefühlen zurückzudrängen.
„Du selbst wolltest mich loswerden“, brachte er schließlich hervor. Er fühlte sich in einen Strudel gestoßen, der ihn nach und nach in die Tiefe riss und ihm dabei alles nahm, was ihm jemals Hoffnung und Wert in seinem Leben gegeben hatte.
„Loswerden?“ Der Schock ließ nun doch ihre Maske verschwinden. „Wie kommst du darauf? Denkst du, Brot und Konservendosen wären der einzige Grund gewesen, weshalb ich jeden Tag vor deiner Tür gestanden habe? Du bist mein Sohn, Atlan! Alles, was ich wollte, war dich zu schützen.“
„Schützen?“ Zum ersten Mal sah er sich unfähig, zu glauben.
„Die Puristen waren damals eine kleine Gruppe, das unterste Elend in einer Stadt, die auf ihrem menschlichen Abfall herumgetrampelt ist. Wir waren verzweifelt und ängstlich. Es war keine Welt, in die man ein Kind setzen sollte. Ich wusste, dass es für uns nur zwei mögliche Wege in der Zukunft geben würde: Zu schweigen und zu sterben, oder zu kämpfen und zu töten.
Das war nichts, was man einem Kind auferlegen sollte. Als ich schwanger wurde, hatten viele andere bereits Familien in der Unterstadt. Aber ich wollte nicht, dass mein Kind in Elend und Krieg umkommen muss. Also habe ich dich an den Ort bringen lassen, den ich für sicher gehalten habe.“
Sie sah ihn an, ihre grünen Augen voll Sorge und … Liebe.
„Und jetzt stehst du hier, inmitten des Krieges, vor dem ich dich bewahren wollte. Es scheint, als hätte das Schicksal etwas mit dir vor, mein Junge. Die Frage ist nur: Was wirst du mit diesem Schicksal anfangen? Du wirst
Weitere Kostenlose Bücher