Das unsichtbare Buch
ganzen Leben noch nicht gesehen. Von der Decke hängen Spinnweben, über den Boden krabbeln Kakerlaken und bestimmt liegen Ratten auf der Lauer und beobachten uns.
»Wie findest du es? Schön, nicht? Man könnte meinen, wir wären in einem verwunschenen Schloss.«
Ich weiß ja, dass ich nicht viel Fantasie habe, aber ich glaube, Lucía übertreibt.
»Ich finde, das ist der richtige Ort, um Das unsichtbare Buch zu lesen. Los, fangen wir an«, drängt sie.
In der Mitte des Raumes steht ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Lucía wischt den Staub von einem der Stühle und setzt sich.
»Setz dich da hin und fang an zu lesen. Jeder liest eine Seite, wie abgemacht.«
»Du hast sie nicht mehr alle«, sage ich immer noch fassungslos, während ich den anderen Stuhl abwische. »Und mich machst du auch noch ganz kirre.«
»Stell dich nicht so an und fang endlich an zu lesen! Wir haben nicht viel Zeit.«
Sie ist wirklich nicht zu bremsen. Du kannst sagen, was du willst – wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kann sie nichts mehr davon abbringen.
»Ist ja gut«, gebe ich nach, »ich fang ja schon an:
Hanna trennte sich niemals von dem unsichtbaren Buch.
Sie spielte mit ihm und dachte sich Streiche aus. Sie legte es auf den Boden, damit die Leute aus dem Palast darüber stolperten. Sie vergnügte sich mit ihm, ohne zu wissen, was es war. Doch eines Tages hob sie es auf, nachdem der Botschafter der Nebelinseln, der sich zu einem offiziellen Besuch im Palast aufhielt, darüber gestolpert war. Da plötzlich wurde ihr klar, was es war.
›Ein Buch!‹, rief sie erstaunt, während jedermann sah, dass sie mit leeren Händen umherlief. ›Es ist ein Buch!‹
Als der König sah, dass sie mit sich selbst sprach, machte er sich große Sorgen, anstatt sie wegen ihres Streiches zu schelten.
›Meine Tochter muss den Verstand verloren haben‹, sagte er zu dem Botschafter, während er ihm wieder auf die Beine half. ›Bitte entschuldigt sie.‹
Hanna lief in ihr Zimmer, das ganz oben im Hauptturm lag, und dachte über das Buch nach.
›Ob wohl etwas drinsteht?‹, fragte sie sich.
Sie nahm das Buch in beide Hände und schlug es auf. Sie hielt es in das Licht der Mittagssonne, die durch das Fenster hereindrang, und versuchte herauszufinden, ob auf den unsichtbaren Seiten etwas geschrieben stand. «
»Und, stand was drin?«
»Was?«, frage ich.
»Ob was drinstand«, wiederholt Lucía ungeduldig.
»Warte, lass mich weiterlesen«, antworte ich. »Nein, anscheinend ist auf den Seiten absolut nichts zu sehen.«
»Dann sind sie also leer?«
»Das weiß man nicht, nur dass Hanna nichts sieht«, erkläre ich.
»Wenn sie nichts sieht, dann gibt es auch nichts zu sehen«, sagt Lucía.
»Nerv mich nicht, Lucía …«
»Gib her, jetzt bin ich an der Reihe«, sagt sie und nimmt mir die Blätter aus der Hand.
»He! Ich bin noch nicht fertig …«
»Sei still! Sei still und hör einfach zu:
Hanna war sehr enttäuscht, als sie feststellte, dass auf den Seiten des seltsamen Buches nichts zu sehen war, weder Buchstaben noch Zeichnungen.
›Natürlich, man kann nichts sehen, weil es ein unsichtbares Buch ist‹, sagte sie sich. ›Ich muss es sichtbar machen, und dann werde ich es lesen können.‹«
»Sag mal, Lucía, weißt du, wie man ein unsichtbares Buch lesen kann?«, unterbreche ich sie.
»Keine Ahnung, ich hab noch nie ein unsichtbares Buch in der Hand gehabt«, antwortet sie. »Aber lass mich weiterlesen:
Doch Hanna verzweifelte an dieser Aufgabe. Sie aß nicht mehr, sie spielte nicht mehr und sie ging auch nicht mehr zu dem Unterricht ihrer Privatlehrer, dennsie dachte an nichts anderes als an das unsichtbare Buch.
›Meine Tochter ist besessen‹, berichtete der König eines Tages dem Hofnarren, einem Zwerg. ›Du musst sie ablenken. Bring sie zum Lachen, damit sie auf andere Gedanken kommt!‹
›Meinen Scherzen kann niemand widerstehen‹, antwortete der Zwerg überzeugt. ›Ich kann jemanden dazu bringen, sich totzulachen, wenn es gewünscht wird …‹
›Also gut, dann sorge dafür, dass meine Tochter wieder zu Verstand kommt … wenn du Wert darauf legst, deinen Kopf zu behalten‹, befahl König Ignacius.«
»Eltern sind doch alle gleich«, unterbreche ich Lucía wieder. »Immer müssen sie sich in die Angelegenheiten ihrer Kinder einmischen.«
»Aber der König macht sich große Sorgen um seine Tochter, das musst du doch verstehen«, widerspricht sie. »Immerhin ist sie die
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