Das unsichtbare Buch
sehen uns morgen in der Schule. Adiós!«
Dieses Mädchen ist ein Orkan, ein Wirbelsturm, ein Tornado! Großer Gott! Sieist völlig verrückt, und jetzt will sie auch noch mich um den Verstand bringen. Sie will aus mir eine Leseratte machen! Sie will … Ach, was weiß ich, was die will! Ich hab ihr die ersten Seiten des Romans mitgebracht, weil sie mir bei der Sache mit Lorenzo und seinen Freunden geholfen hat … Und jetzt will sie plötzlich noch mehr Seiten … und dann noch mehr und immer mehr …
Was soll ich bloß machen?
»Hallo, zusammen!«, ruft mein Vater, der gerade durch die Tür hereinkommt. »Wie geht’s?«
Er hat offensichtlich gute Laune.
»Hallo, Schatz«, sagt meine Mutter und gibt ihm einen Begrüßungskuss. »Wie war dein Tag heute?«
»Gut, sehr gut. Ich habe an meinem Roman weitergeschrieben. Die Geschichte ist wirklich fantastisch. Mir kommen immer neue Ideen. Das wird ein geniales Buch.«
Während des Abendessens redet Papa über nichts anderes als den Roman. Er scheint richtig begeistert zu sein. Wenn es weiter so gut laufe, sagt er, sei er bald fertig.
Meine Mutter und mein Bruder Javier folgen gebannt seinem Bericht, als würde er von etwas ganz Greifbarem reden. Sie merken gar nicht, dass sie von etwas sprechen, das es gar nicht gibt. Es ist schließlich nur eine Geschichte!
»Ich gehe noch ein wenig arbeiten«, sagt Papa, kaum dass er zu Ende gegessen hat. »Ich muss unbedingt alles abtippen, was ich mir heute ausgedacht habe.«
Die spinnen doch alle! Selbst Lucía hat sich davon anstecken lassen und denkt an nichts anderes mehr, als ein Buch zu lesen, das es noch gar nicht gibt.
Was für ein Wahnsinn!
5
» I ch hab dir noch ein paar Seiten mitgebracht.«
»Was hast du gesagt?«, fragt Lucía und legt die Hand ans Ohr. Offensichtlich habe ich zu leise gesprochen.
»Ich hab gesagt, dass ich dir noch ein paar Seiten des Unsichtbaren Buches mitgebracht habe.«
Jetzt scheint sie mich verstanden zu haben. Sie sieht mich ungläubig und gleichzeitig überglücklich an, was wirklich nicht leicht ist.
»Gib her, ich will es lesen.«
»Bist du verrückt? Wenn der Lehrer uns sieht, macht er uns fertig«, zische ich. »Du kannst es später lesen, nach der Schule, in der Eisdiele.«
»Hast du es schon gelesen?«, fragt sie.
»Nein, ich wollte es mit dir zusammen lesen«, antworte ich … und beiße mir sofort auf die Zunge. Das hätte ich nicht sagen dürfen!
Lucía wirft mir einen komplizenhaften Blick zu, der wohl bedeuten soll: So langsam kommst du auf den Geschmack, was?
Doch da täuscht sie sich. Das Ganze ist doch Schwachsinn! Und obwohl ich nicht so genau weiß, warum ich das alles mache, heißt das noch lange nicht, dass mir das Lesen Spaß macht. Überhaupt nicht! Vor allem macht es mir keinen Spaß, ein Buch zu lesen, das noch nicht zu Ende geschrieben ist und vielleicht nie zu Ende geschrieben wird. Lesen macht mir höchstens Spaß, wenn ich dabei Eis essen kann.
Es klingelt zur Pause.
»Nimm die Seiten mit!«, sagt Lucía im Befehlston. »Wir lesen sie jetzt gleich!«
»Jetzt? In der Pause?«, frage ich überrascht.
»Los! Tu, was ich dir sage!«
»Aber …«
»Wir haben keine Zeit, stundenlang darüber nachzudenken!«
Ich denke nicht. Ich mache meine Tasche auf und hole die Seiten heraus, die in einem großen Buch stecken. Dann renneich hinter ihr her. Besser gesagt, ich lasse mich von ihr am Arm aus der Klasse ziehen.
Wir laufen die Treppe hinunter. Ich habe gedacht, wir würden auf den Schulhof gehen, doch schon gibt sie den nächsten Befehl: »Hier lang … Komm mit!«
»Wohin denn?«
Sie rennt die Kellertreppe hinunter. Ich beschließe, keine weiteren Fragen zu stellen.
»Los, beeil dich! Bevor uns jemand sieht …«, flüstert Lucía.
»Aber wir dürfen nicht in den Keller!«
»Eben, da stört uns keiner.«
Unten angekommen, schaltet Lucía das Licht ein. Wir gehen durch einen langen Gang, vorbei an mehreren Türen.
»Hier«, sagt sie und öffnet eine der Türen. »Geh da rein!«
»Was ist da?«
»Der Heizungsraum, aber keine Angst, es kommt schon keiner, um die Heizung anzumachen.«
»Das ist verboten!«, wiederhole ich.
»Das hier ist ein super Geheimversteck«, beruhigt sie mich und schließt die Tür hinter sich. »Hier sind wir sicher.«
Klar sind wir hier sicher! Keiner würde es wagen, hierherzukommen, nicht mal, wenn der dritte Weltkrieg ausbrechen würde. So etwas Verlottertes, Unheimliches und Einsames habe ich in meinem
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