Das unsichtbare Buch
Papierfetzen, die sich nicht mehr ordnen lassen. »Was ist das für ein Unsinn?«
Lucía und ich ziehen es vor, nichts zu sagen. Wir senken beide den Blick.
»Lies mir das hier mal vor, César«, sagt der Direktor und hält mir eine zerknitterte Seite hin, die einzige, die einige vollständige Absätze enthält. »Lies, bevor ich sauer werde!«, befiehlt er mir.
»Prinzessin Hanna fand keine Möglichkeit, das seltsame Buch sichtbar zu machen . Jeden Tag ging es ihr schlechter und sie bekam sehr hohes Fieber. Eines Tages jedoch, als der Arzt gerade ihr Zimmer verlassen hatte, sprach sie im Fieberwahn über das, was sie quälte. Ein Page namens Sigfrido, der ihr treu diente, hörte ihre Worte.
›Ich glaube, ich kann dir helfen‹, sagte er am nächsten Tag zu ihr. ›Wir könnten zum Zauberer der Berge gehen. Er vollbringt die unglaublichsten Dinge.‹
›Wo lebt dieser Zauberer?‹, fragte die Prinzessin hoffnungsvoll. ›Kannst du mich zu ihm bringen?‹
›Er lebt auf Artón, dem Zauberberg‹, antwortete der Page. ›Zwei Tagesritte von hier entfernt. Er lebt allein in seiner Hütte und weiß sicher einen Zauberspruch, der das Buch sichtbar machen kann.‹
Hanna war so erfreut ob dieser Neuigkeit, dass ihr Lebensmut zurückkehrte und sie zu ihrem Vater ging, um mit ihm zu sprechen.
Der König aber, der weder an Zauberei noch an Märchen glaubte, erlaubte seiner Tochter nicht, dorthin zu gehen. Der Berg Artón lag in feindlichem Gebiet, und er fürchtete um ihr Leben. Doch so leicht gab die Prinzessin ihren Plan nicht auf, denn sie hatte sich fest vorgenommen, das Buch zu lesen, koste es, was es wolle.
Einige Tage später rief Hanna den Pagen zu sich in ihr Gemach.
›Heute Nacht reiten wir fort‹, sagte sie zu ihm. ›Im Hof stehen zwei gesattelte Pferde für uns bereit. Und ich weiß, wie man das Schloss unbemerkt verlassen kann.‹
›Aber der König wird uns bestrafen‹, wandte der Diener ein. ›Er wird mich in die Folterkammer werfen lassen.‹
›Wenn du dich fürchtest, reite ich eben allein‹, entgegnete die Prinzessin stur. ›Erkläre mir nur ganz genau, wo der Zauberer lebt, dann werde ich dich nicht brauchen.‹
›Wenn der König erfährt, dass ich dich allein habe gehen lassen, wirft er mich inden Drachengraben‹, sagte der Page, vor Angst schlotternd.
›Also?‹
›Ich werde mit dir gehen‹, willigte er ergeben ein.
›Gut!‹, rief Hanna erfreut und gab ihm einen Kuss auf die Wange. ›Du bist ein tapferer Held.‹
In jener Nacht begleitete der Vollmond zwei Reiter, die heimlich das Schloss verließen und zum Berg Artón aufbrachen. Einer von ihnen trug ein unsichtbares Buch in der Satteltasche bei sich.
Von einer Zinne herab sah König Ignacius ihnen mit Tränen in den Augen nach. ›Ich wünsche euch alles Glück der Welt‹, flüsterte er.
Das ist alles«, sage ich und gebe ihm die Seite zurück.
»Und kannst du mir auch erklären, was das bedeutet?«, fragt mich der Direktor.
Ich traue mich nicht, ihm zu erzählen, dass die Seite aus einem Buch stammt, das mein Vater gerade schreibt. Wenn er Papa anruft und ihm alles erzählt, kriege ich erst richtig Ärger.
»Das ist aus einer Geschichte, die ich gerade schreibe«, kommt mir Lucía zu Hilfe. Von heute an werde ich sie nur noch ›Lucía, meine Retterin‹ nennen!
»Ach, tatsächlich?«, ruft der Direktor aus, als könne er es kaum glauben.
»Sie will Schriftstellerin werden«, erläutert unser Lehrer, der zusammen mit dem Hausmeister auch da ist. »Sie möchte einmal Bücher schreiben, sagt sie immer.«
»Und das muss sie ausgerechnet im Heizungskeller tun?«, entgegnet der Direktor.
»Entschuldigen Sie«, sagt Lucía. »Aber ich habe dort nicht geschrieben, wir haben gelesen.«
Der Direktor gibt keine Antwort. Er sieht sie misstrauisch an, sagt aber nichts.
Er setzt sich in seinen riesigen schwarzen Schreibtischsessel mit der hohen Rückenlehne, kratzt sich am Kinn und wiegt den Kopf hin und her. Im Zimmer könnte man eine Stecknadel fallen hören, so leise ist es. Nicht mal unser Atem ist zu hören. Nichts.
Alles wartet auf den Richterspruch des Direktors.
»Und worum geht es in diesem Buch?«, fragt er Lucía schließlich.
»Um ein Mädchen, das ein unsichtbares Buch findet«, erklärt sie ihm. »Und darum, was sie alles unternimmt, um es lesen zu können.«
»Und, gelingt es ihr?«
»Das weiß ich nicht, es ist noch nicht fertig«, antwortet Lucía ganz ruhig.
Der Hausmeister und unser Lehrer lachen
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