Das unvollendete Bildnis
kann nie durch karge amtliche Berichte zu ihrem Recht kommen. Gerade die Dinge, die darin nicht erwähnt werden, sind meist die ausschlaggebenden.
Die Gefühle, die Charaktere, die mildernden Umstände…»
Er hielt inne, und Meredith ergriff eifrig die Gelegenheit, als habe er sein Stichwort erhalten.
«Mildernde Umstände! Das ist es! Wenn es je mildernde Umstände gegeben hat, dann in diesem Fall! Amyas Crale war ein alter Freund von mir – unsere Familien sind seit Generationen miteinander befreundet. Dennoch muss ich zugeben, dass er sich, offen gesagt, schandbar benommen hat. Er war ein Künstler, was ja vieles entschuldigt, aber es war seine Schuld, dass die Dinge auf die Spitze getrieben wurden. Kein normaler, anständiger Mann hätte es zu einer solchen Situation kommen lassen dürfen.»
«Was Sie da sagen, ist hochinteressant. Auch für mich ist diese Situation ein Rätsel. Kein wohlerzogener Mann, kein Mann von Welt hätte es so weit kommen lassen dürfen.»
Blakes schlaffes Gesicht belebte sich.
«Aber der springende Punkt ist, dass Amyas kein gewöhnlicher Mensch war. Er war Maler, verstehen Sie; seine Malerei ging ihm über alles, und zuweilen nahm seine Besessenheit ungewöhnliche Formen an. Ich verstehe diese so genannten künstlerischen Menschen nicht – habe sie nie verstanden. Für Crale brachte ich etwas Verständnis auf, da ich ihn ja von Kindheit an kannte. Er stammte aus den gleichen Kreisen wie ich, und in vieler Hinsicht gehörte er immer noch zu uns; nur wo es sich um seine Kunst drehte, fiel er aus dem Rahmen. Er war nicht etwa ein Dilettant, keineswegs, er war ein erstklassiger Maler, viele behaupten sogar, er sei ein Genie gewesen. Das mag stimmen, aber die Folge davon war, dass er ein unausgeglichenes Wesen hatte, möchte ich sagen. Wenn er ein Bild malte, so existierte nichts weiter für ihn; kein Mensch durfte ihn stören. Er war dann wie in Trance, war völlig besessen von seiner Arbeit. Erst nach Beendigung des Bildes wachte er aus diesem Zustand auf und wurde wieder normal. Und das erklärt auch, wieso diese Situation entstehen konnte. Er hatte sich in diese Elsa Greer verliebt, er wollte sie heiraten. Er war bereit, ihretwegen Frau und Kind zu verlassen. Aber er hatte angefangen, sie zu malen, und er wollte unbedingt das Bild vollenden, alles andere interessierte ihn nicht, er sah nichts anderes. Und dass die Situation für beide Frauen unmöglich war, schien ihm nie in den Sinn gekommen zu sein.»
«Hatten die beiden Verständnis dafür?»
«Gewissermaßen ja. Elsa war begeistert von seiner Malerei, aber sie war natürlich in einer schwierigen Situation. Und Caroline… also Caroline… ich habe sie immer sehr gern gehabt. Es hat einmal eine Zeit gegeben, da ich… da ich mir Hoffnungen auf sie machte; sie wurden jedoch schon im Keim erstickt. Aber ich blieb stets ihr ergebener Freund.»
Poirot nickte nachdenklich. Dieser etwas melancholische Ausdruck war charakteristisch für den Mann. Meredith Blake war einer jener Männer, die ihr ganzes Leben einer romantischen Liebe weihen, die treu und selbstlos ihrer Herzensdame dienen.
Vorsichtig die Worte wägend, fragte Poirot:
«Sie müssen ihm doch um ihretwillen sein Verhalten sehr verübelt haben?»
«O ja… ich habe Crale sogar Vorwürfe deswegen gemacht.»
«Wann?»
«Am Nachmittag… vor dem Unglückstag. Sie waren alle bei mir zum Tee. Ich nahm Crale beiseite und sagte ihm, dass es beiden Frauen gegenüber unfair wäre.»
«Das haben Sie gesagt?»
«Ja. Ich glaubte nämlich, dass er sich gar nicht klar darüber sei.»
«Wahrscheinlich nicht.»
«Ich sagte ihm, dass er Caroline in eine unmögliche Situation gebracht habe. Wenn er Elsa wirklich heiraten wolle, hätte er sie nicht ins Haus bringen dürfen, um… um mit seinem Glück vor Caroline sozusagen zu prahlen. Das sei für Caroline eine schwere Beleidigung.»
«Und was antwortete er?», fragte Poirot gespannt.
«Er sagte: ‹Caroline muss es schlucken.› Ich fand das abscheulich. Ich wurde wütend, sagte, dass er, wenn er sich schon nicht um die Gefühle seiner Frau kümmere, wenn es ihm gleich wäre, wie sehr sie litte, doch wenigstens an Elsa denken solle, denn auch sie sei ja in einer unmöglichen Lage. Darauf antwortete er nur, auch sie müsse es schlucken! Und fügte hinzu: ‹Du scheinst nicht zu wissen, Meredith, dass ich augenblicklich das beste Bild meines Lebens male. Es wird gut, das sage ich dir. Und ich lasse es mir nicht durch den Zank
Weitere Kostenlose Bücher