Das unvollendete Bildnis
man sie zwecks Weiterbildung in ein Internat schicken wollte», bemerkte Poirot. «Das müssen Sie doch bedauert haben.»
«Keineswegs, Monsieur Poirot, ich war sehr einverstanden damit. Angela war ein liebes Kind, ein wirklich liebes Kind, warmherzig und impulsiv, aber sie war auch ein schwieriges Kind, das heißt, sie war in einem schwierigen Alter. Es gibt eine Zeit, da Mädchen ihrer selbst nicht sicher sind, da sie weder Kind noch Frau sind. In einem Moment war Angela vernünftig und reif, richtig erwachsen, im nächsten war sie völlig kindlich, verübte schlimme Streiche, war unverschämt und jähzornig. Wissen Sie, Mädchen in diesem Alter sind entsetzlich empfindlich. Sie nehmen alles übel und sind sehr rasch beleidigt. In diesem Stadium war Angela. Sie hatte Wutanfälle, sie konnte es nicht ertragen, geneckt zu werden, und brauste wegen jeder Kleinigkeit auf, oder sie war tagelang mürrisch, saß übelnehmerisch herum; dann wieder war sie übermütig, kletterte auf Bäume, tollte mit den Bauernjungen, weigerte sich, irgendeine Autorität anzuerkennen. Wenn ein Mädchen in dieses Alter kommt, ist ein Internat das Beste. Sie braucht die Anregung durch die Mitschülerinnen, die gesunde Disziplin einer Gemeinschaft, das hilft ihr, ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu werden.
Auch die Familienverhältnisse waren für Angela keineswegs ideal. Mrs Crale verwöhnte sie über alle Maßen, sie brauchte nur ein Wort zu sagen, und sofort stand Mrs Crale für sie ein. Die Folge war, dass Angela glaubte, sie könne die Zeit und die Aufmerksamkeit ihrer Schwester völlig in Anspruch nehmen, und aus dieser Einstellung heraus ergaben sich natürlich Zusammenstöße mit Mr Crale. Mr Crale fand begreiflicherweise, dass er an erster Stelle kommen müsse, und bestand auf diesem Recht. Er hatte zwar Angela wirklich gern, sie waren gute Kameraden und balgten sich oft freundschaftlich miteinander, aber es gab auch Zeiten, da Mr Crale es seiner Frau übel nahm, dass sie sich so sehr um Angela sorgte; er war wie alle Männer ein verwöhntes Kind und glaubte, alles müsse sich um ihn drehen. Wenn er mit Angela richtigen Krach bekam und seine Frau Angelas Partei ergriff, wurde er wütend, und umgekehrt wurde Angela wütend, wenn Mrs Crale seine Partei ergriff.
Das war dann der Anlass, dass Angela ihm recht bösartige kindliche Streiche spielte. Er hatte die Angewohnheit, Gläser in einem Zug zu leeren, und einmal zum Beispiel schüttete sie einen Haufen Salz in sein Getränk, woraufhin er einen Brechreiz und einen Wutanfall bekam. Was aber dem Fass den Boden ausschlug, war der Vorfall mit den Schnecken – er hatte eine krankhafte Aversion gegen Schnecken, und sie hatte ihm einige ins Bett gesteckt. Er geriet außer sich vor Wut und erklärte, dass sie in ein Internat müsse. Er wolle in Zukunft vor solchen Dingen verschont bleiben.
Angela war entsetzlich wütend; obwohl sie ein- oder zweimal ausdrücklich erklärt hatte, in ein Internat gehen zu wollen, tat sie nun, als geschehe ihr schweres Unrecht. Mrs Crale wollte nicht, dass sie fortginge; sie ließ sich aber überreden, und ich glaube, hauptsächlich auf meinen Rat hin, denn ich sagte ihr, dass es zu Angelas Bestem sei. So wurde beschlossen, dass Angela zum Herbstquartal nach Heiston gehen sollte, einem ausgezeichneten Mädcheninternat an der Südküste. Doch Mrs Crale war höchst unglücklich darüber, und Angela nahm es Mr Crale sehr übel. Ihr Groll war nicht wirklich ernst zu nehmen, aber er kam zu anderen Dingen hinzu, die sich im Laufe des Sommers im Haus abspielten.»
«Meinen Sie Elsa Greer?», fragte Poirot.
«Richtig!», stieß Miss Williams hervor und presste die Lippen zusammen.
«Was hielten Sie von Elsa Greer?»
«Nichts; sie war ein hemmungsloses junges Ding.»
«Sie war noch sehr jung.»
«Alt genug, um sich besser zu benehmen. Ich kann keine Entschuldigung für sie finden.»
«Sie hatte sich in Mr Crale verliebt, ich vermute…»
Miss Williams unterbrach ihn brüsk:
«Sie hatte sich in ihn verliebt, das kann man wohl sagen. Aber ich bin der Ansicht, Monsieur Poirot, dass wir unsere Gefühle, so heftig sie auch sein mögen, in den Grenzen des Anstands halten müssen. Und ganz bestimmt müssen wir Herr unserer Taten sein. Dieses Mädchen hatte überhaupt keine Moral. Es spielte für Miss Greer keine Rolle, dass Mr Crale ein verheirateter Mann war. Sie war völlig schamlos, kühl und entschlossen. Wahrscheinlich war sie schlecht
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