Das unvollendete Bildnis
dar. In diesem Falle schien das Kind überhaupt nicht zu zählen, und das kommt mir so merkwürdig vor.»
«Sie haben da einen wunden Punkt berührt, Monsieur Poirot, Sie haben vollkommen recht. Und das ist mit einer der Gründe, warum ich vorhin meinte, dass Carlas Verpflanzung in eine fremde Umgebung in mancher Hinsicht gut für sie war. Später hätte sie vielleicht darunter gelitten, dass in dem elterlichen Hause etwas fehlte.»
Miss Williams beugte sich vor und fuhr langsam, ihre Worte genau abwägend, fort:
«In meinem Beruf habe ich natürlich das Problem Eltern – Kind von den verschiedensten Gesichtspunkten aus betrachten können. Viele Kinder – die meisten, möchte ich sagen – leiden darunter, dass die Eltern sich zu sehr um sie kümmern, sie werden mit zu viel Liebe überschüttet, zu sehr umsorgt. Unbewusst fühlt sich das Kind deshalb unbehaglich und sucht, sich den Eltern zu entziehen, um unbeobachtet und frei zu sein. Besonders wenn es sich um ein Einzelkind handelt, ist das der Fall, und natürlich treiben die Mütter es am schlimmsten. Die Auswirkung auf die Ehe ist häufig negativ. Der Mann nimmt es übel, erst an zweiter Stelle zu kommen; er sucht Trost und Liebe woanders, und früher oder später kommt es zur Scheidung. Das Beste für ein Kind ist meiner Überzeugung nach das, was ich als gesunde Vernachlässigung von Seiten beider Eltern bezeichnen möchte. Das ergibt sich bei kinderreichen Familien mit wenig Geld häufig von selbst. Die Mutter hat einfach keine Zeit, sich zu sehr um die einzelnen Kinder zu kümmern. Die Kinder merken sehr wohl, dass die Mutter sie liebt, ohne von allzu vielen Äußerungen dieser Liebe behelligt zu werden.
Es kommt aber auch vor, dass ein Ehepaar sich selbst so genügt, so ineinander aufgeht, dass die Frucht dieser Ehe, das Kind, für sie kaum vorhanden ist. Unter diesen Umständen fühlt ein Kind sich vernachlässigt und verlassen. Wohlgemerkt, das Kind muss nicht irgendwie sichtbar vernachlässigt werden. Mrs Crale war zum Beispiel das, was man eine vorbildliche Mutter nennt, sie sorgte für Carlas Wohl, für ihre Gesundheit, spielte mit ihr, wie es sich gehört, und war stets lieb und fröhlich mit ihr. Aber im Grunde war Mrs Crale nur für ihren Mann da; sie lebte nur in ihm und für ihn. Und das ist meiner Meinung nach auch die Rechtfertigung dessen, was sie schließlich tat.»
«Sie meinen, dass die beiden eher Liebhaber und Geliebte waren als Ehemann und Ehefrau?»
«Richtig», antwortete Miss Williams.
«Er liebte sie ebenso wie sie ihn?»
«Sie liebten sich sehr… aber er war eben ein Mann. »
Die alte Jungfer, die lebenslange Gouvernante, entpuppte sich als Frauenrechtlerin; für sie war der Mann der Feind!
«Sie halten nichts von Männern?», erkundigte Poirot sich.
«Die Männer haben alle Vorteile in dieser Welt», antwortete sie trocken, «und ich hoffe nur, dass das nicht immer so sein wird.»
Poirot zog es vor, darüber nicht zu diskutieren.
«Sie mochten Amyas Crale nicht?»
«Das kann man wohl sagen. Ich fand sein Verhalten schändlich, und wenn ich seine Frau gewesen wäre, hätte ich ihn verlassen. Es gibt Dinge, die keine Frau dulden darf.»
«Aber Mrs Crale duldete sie?»
«Ja.»
«Und Sie hielten das für falsch?»
«Jawohl. Eine Frau sollte eine gewisse Selbstachtung haben und sich nicht demütigen lassen.»
«Haben Sie das je zu Mrs Crale gesagt?»
«Natürlich nicht, das stand mir nicht zu. Ich wurde dafür bezahlt, Angela zu erziehen, nicht dafür, Mrs Crale ungebetene Ratschläge zu erteilen. Hätte ich es getan, wäre es eine Impertinenz von mir gewesen.»
«Sie mochten Mrs Crale?»
«Ich hatte Mrs Crale sehr gern.» Die sachliche Stimme wurde sanfter, wärmer, mitleidig. «Ich hatte sie sehr gern, und sie tat mir sehr leid.»
«Und Ihr Zögling – Angela Warren?»
«Sie war ein höchst interessantes Mädchen – eine der interessantesten Schülerinnen, die ich je hatte. Hochintelligent, undiszipliniert, jähzornig, in vieler Hinsicht unlenkbar, aber ein wertvolles Menschenkind. Ich war stets der Überzeugung, dass sie es zu etwas bringen würde. Und das hat sie ja auch. Haben Sie ihr Buch über die Sahara gelesen? Und sie hat auch diese hochinteressanten Ausgrabungen im Fayyum gemacht. Ja, ich bin sehr stolz auf Angela. Ich war nicht lange in Alderbury – zweieinhalb Jahre –, aber ich bilde mir ein, ihren Geist angeregt und ihr Interesse für Archäologie gefördert zu haben.»
«Ich hörte, dass
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