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Das unvollendete Bildnis

Das unvollendete Bildnis

Titel: Das unvollendete Bildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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weißt es. Und ich werde dich malen, werde ein Bild schaffen, dass diese spießige Welt sich auf den Kopf stellt und das Maul aufreißt 1 Ich bin wahnsinnig ich bin verrückt nach dir, ich kann nicht mehr schl a fen, ich kann nicht essen. Elsa… Elsa… Elsa… ich gehöre dir für immer, bis in den Tod. Amyas.
     
    Vor sechzehn Jahren geschrieben. Verblasste Tinte, zerknittertes Papier, aber die Worte lebten noch… vibrierten…
    Er betrachtete die Frau, an die dieser Brief gerichtet war. Aber es war keine Frau mehr, die er sah, es war ein junges Mädchen, das liebt.
    Wieder dachte Poirot an Julia…

9
     
    « D arf ich fragen, wozu, Monsieur Poirot?»
    Hercule Poirot überlegte die Antwort. Er sah, wie ihn ein Paar gescheite graue Augen aus einem runzligen kleinen Gesicht prüfend betrachteten.
    Er war in den obersten Stock der kahlen Mietskaserne gestiegen, hatte an eine Tür geklopft und war in eines jener Zimmer getreten, die als Wohnungen für berufstätige Frauen bezeichnet wurden.
    Hier, in einem kleinen quadratischen Raum, der Schlafzimmer, Wohnzimmer, Esszimmer in einem war und dank einem Gaskocher auch als Küche diente, lebte Miss Cecilia Williams. So ärmlich die Umgebung auch war, hatte sie es doch verstanden, ihr eine persönliche Note zu verleihen. An den nüchternen hellgrauen Wänden hingen einige Reproduktionen: Dante, der auf einer Brücke Beatrice trifft, zwei Aquarelle von Venedig und Botticellis «Primavera»; auf einer niederen Kommode standen mehrere verblasste Fotografien. Der Teppich war abgetreten, die billigen Möbel abgenutzt. Es war offensichtlich, dass Cecilia Williams von fast nichts lebte. Hier gab es kein Roastbeef, das war das Schweinchen, das nichts bekommen hatte.
    Klar und beharrlich wiederholte Miss Williams ihre Frage:
    «Darf ich wissen, wozu ich Ihnen von meinen Erinnerungen an den Fall Crale erzählen soll?»
    Miss Williams war eine höchst erfolgreiche Erzieherin, und sie besaß Autorität. Sie zog es überhaupt nicht in Erwägung, dass man ihr nicht gehorchen könnte, und so fiel es schwer, sie anzulügen. Daher erzählte Poirot ihr nichts von einem Buch über frühere Mordfälle, sondern erklärte schlicht und einfach, warum Carla Lemarchant ihn aufgesucht hatte.
    Die ältliche kleine Dame in dem einfachen, sauberen Kleid hörte aufmerksam zu und sagte schließlich:
    «Es interessiert mich sehr zu hören, was aus dem Kind geworden ist.»
    «Eine reizende junge Dame mit viel Mut und Energie.»
    «Sehr gut», bemerkte Miss Williams kurz.
    «Und sie ist hartnäckig und setzt ihren Willen durch.»
    Nachdenklich fragte Miss Williams:
    «Hat sie künstlerische Interessen?»
    «Ich glaube nicht.»
    «Gott sei Dank!», sagte sie trocken. Ihrem Ton war ihre Einstellung Künstlern gegenüber klar zu entnehmen. «Demnach gleicht sie mehr ihrer Mutter als ihrem Vater.»
    «Das ist möglich. Das können Sie selbst beurteilen, wenn Sie sie sehen werden.»
    «Das möchte ich sehr gern. Es ist immer interessant zu sehen, was aus einem Kind geworden ist.»
    «Sie war noch sehr klein, als Sie sie zuletzt sahen?»
    «Fünfeinhalb. Ein reizendes Kind, vielleicht etwas zu ruhig, zu nachdenklich. Sie konnte sich stundenlang allein beschäftigen. Sie war sehr natürlich und nicht verwöhnt.»
    «Ein Glück, dass sie noch so klein war», sagte Poirot.
    «Ja. Wäre sie älter gewesen, hätte diese Tragödie schlimme Auswirkungen auf sie haben können.»
    «Trotzdem war es nicht gut für sie, so klein sie auch war; sie wurde doch von einem Tag zum andern in eine andere Umgebung verpflanzt, war von Geheimnistuerei und Ausflüchten umgeben. So etwas spürt ein Kind doch.»
    «Die Auswirkungen sind vielleicht weniger schädlich gewesen, als Sie denken», erwiderte Miss Williams nachdenklich.
    «Bevor wir das Thema Carla Lemarchant verlassen, möchte ich Sie etwas fragen. Wenn jemand es mir erklären kann, dann Sie.»
    «Ja?»
    «Es ist eine Kleinigkeit, nur ein Detail, das ich nicht klar definieren kann. Jedes Mal, wenn ich irgendjemandem gegenüber das Kind erwähne, erfolgt eine überraschte, verschwommene Antwort, als hätte die betreffende Person die Existenz des Kindes völlig vergessen. Und das ist nicht normal. Ein Kind ist doch eine wichtige Persönlichkeit, etwas, um das sich eigentlich alles drehen müsste. Amyas Crale mag seine Gründe gehabt haben, seine Frau zu verlassen oder nicht zu verlassen, aber wenn eine Ehe auseinander geht, stellt das Kind doch immer einen wichtigen Faktor

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