Das verbotene Glück der anderen
nicht, dass Ousep ihn stört. Doch wenn das stimmen sollte, würde der Junge wie seine Schwester ab und zu nach Hause kommen. Was Sai Shankaran gesagt hatte, klingt auf einmal plausibel. Somen Pillai war vermutlich an einen einsamen Ort gegangen, um dort zu sterben. Unnis Todesart war zu auffällig und brachte einen unermüdlichen Vater dazu, die Spur aufzunehmen. Somen wollte wahrscheinlich nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenken. Er wollte als verschollen gelten. Doch warum?
Um Mitternacht geht Ousep wieder zu Somens Haus, mit schwankendem Gang und Sturmfrisur. Diesmal sieht ihn das Haus nicht kommen. Er steht am Tor und fragt: «Sehen Sie nachts schlecht?» Dann geht er zur Haustür und hämmert dagegen. Das Licht geht an; und Somens Vater blickt durchs Fenster. Er starrt Ousep wütend an, wird aber sofort nervös. Er äugt in die Nacht hinaus, um zu sehen, ob Ousep ein paar muskulöse Freunde mitgebracht hat. Als er sicher ist, dass der Trunkenbold allein ist, macht er die Tür auf und steht mit geballten Fäusten breitbeinig da. Ousep tritt zurück, macht ein paar Kung-Fu-Schritte rückwärts und hält sich die Hand, als sei sie eine Kobra, die gleich zubeißt.
«Junger Herr, ich komme, um Somen Pillai zu sehen», sagt er.
«Was ist los mit Ihnen, Ousep, sind Sie betrunken?»
«Ist er wieder da? Ist Somen Pillai nach Hause gekommen?»
«Warum haben Sie uns bei unseren Nachbarn schlechtgemacht, Ousep, sind Sie von Sinnen? Sie haben allen erzählt, der Junge sei verschwunden. Sie haben allen erzählt, er habe sich Geld von Leuten geliehen.»
«Ist Somen Pillai zu Hause?»
«Kommen Sie nie wieder her, ich warne Sie, Ousep. Bleiben Sie mir vom Leib.»
Die Tür geht zu, Riegel und Schlösser werden geräuschvoll bedient. Ousep schreit: «Wo ist Somen Pillai? Wo ist Somen Pillai? Wo ist Somen Pillai?»
In den Häusern ringsum gehen die Lichter an. Leute starren aus den Fenstern. Für Ousep ist das ein vertrauter Augenblick, ein Nachtaugenblick: Lichter gehen in Häusern an, Leute spähen aus den Fenstern und sehen ihn in einem Zustand, den sie sich tagsüber nie vorgestellt hätten, und alle sind sich stillschweigend darüber einig, dass sie besser sind als er. Auch diese kleine Straße weiß jetzt über Ousep Chacko Bescheid.
Um sieben Uhr morgens kommt er wieder und stellt sich ans Tor, um das Haus zu überrumpeln. Nichts rührt sich. Er wartet. Wie man wartet, weiß er gut, dafür hat er Talent. Nach etwa einer Stunde sieht er das Dienstmädchen die Straße entlanggehen. Wieder ist er beeindruckt von ihrem Gesicht, das hart ist, um seine karge Schönheit jedoch sehr genau weiß. Sie muss Anfang dreißig sein, für Dienstmädchen ein mittleres Alter, hat aber für Männeraugen noch viel zu bieten. Sie sieht nicht verhungert aus wie die anderen Dienstmädchen, ihr Busen ist voll und stolz und ihre Fülle wohlgeformt. In ihrem Slum muss sie die Königin sein. Sie ist eine Anomalie, denn Frauen wie sie überdauern nicht lange als Dienstmädchen. Sie geht mit gesenktem Kopf auf ihn zu, und als sie den Blick hebt, liegt darin die unheilbare Verachtung tamilischer Dienstmädchen für Männer, die keine Filmstars sind.
«Ist Somen Pillai im Haus?», fragt er sie.
Sie geht wortlos weiter.
«Wohnt er in diesem Haus?»
Sie klingelt an der Tür. Somens Mutter macht auf und ist erschrocken, dass Ousep so früh am Tor steht. Sie macht ihm die Tür vor der Nase zu. Ousep wartet ab, wie der Vormittag sich entwickelt. Das Dienstmädchen bleibt nur etwa eine Stunde, was nichts Ungewöhnliches ist. Der Mann und seine Frau kommen in Bürokleidung aus dem Haus, schließen die Tür ab und weichen Ouseps Blick aus, als sie an ihm vorbeigehen. Sie gehen zu einer alten, grauen Vespa, die am Straßenrand steht. Der Mann tritt immer wieder den Kickstarter, bis der Motor aufheult. Seine Frau setzt sich hinter ihn, legt die Arme um seinen dicken Bauch, und dann fahren sie weg.
Das große Haustürvorhängeschloss hat etwas melancholisch Endgültiges. Hat Somen seine Eltern wirklich verlassen und ist für immer verschwunden? Doch wenn es wahr ist, dass Somen verschwunden ist, brauchen seine Eltern es ihm nur zu sagen. Wenn man bedenkt, wie er ihnen auf die Nerven geht, wäre das doch eine gute Lösung, um ihn loszuwerden. Ousep zu sagen, dass sie ihren Sohn an die Philosophie verloren haben, ist doch bestimmt nicht beschämend für sie. Ousep das zu sagen, ist nicht beschämend. Aber sie haben es nicht gesagt. Vielmehr haben
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