Das verbotene Glück der anderen
Vater an der Hand und fragt ihn leise: «Warum tun Sie das?»
«Was tue ich?»
«Warum darf ich Ihren Sohn nicht sehen?»
«Sie wittern in allem etwas Verborgenes, Ousep. Die Jungen haben heutzutage viel zu tun. Sie gehen früh aus dem Haus und kommen spät zurück. Er ist zwanzig, er hat viel zu tun. Und wenn sie jemanden nicht sehen wollen, dann sehen sie ihn nicht.Es sind junge Leute, sie haben ihren eigenen Kopf. Er will nicht über Unni reden, und daran lässt sich nichts ändern. Er will Sie nicht sehen. Er wird Sie nie sehen wollen.»
Der Mann beugt sich vor und flüstert: «Ousep, geben Sie auf. Mit siebzehn tun Kinder seltsame Dinge. Es ist ein wahnsinniges Alter. Was kann man da machen? Vielleicht ging es um ein Mädchen. Ein Mädchen ist immer im Spiel. Lassen Sie es gut sein. Leben Sie Ihr Leben weiter.»
«Das ist mein Leben. Unni ist mein Leben. Ich komme wieder, Pillai.»
Pillai geht zurück ins Haus und macht die Tür zu. Ousep versucht, das Haus zu verstehen. Ein Haus ist wie ein Mensch. Wenn man ihm lange genug ins Gesicht starrt, blickt man irgendwann hinter die Fassade. Es ist ein kleines, schlichtes Haus, das so ans Ende der kleinen Straße gebaut ist, dass man nur an einer einzigen Stelle hinein- und hinauskann. Alle Fenster sind geschlossen, was für ein Haus in Madras seltsam ist, und alle Fenster haben Vorhänge, was nicht überrascht. Auf der Dachterrasse, die nicht mehr als dreieinhalb Meter vom Boden entfernt ist, hängt Wäsche zum Trocknen. Soweit er sieht, sind keine Jeans oder T-Shirts dabei. Äußerlich deutet nichts an dem Haus darauf hin, dass dort ein junger Mann wohnt.
In den Häusern zu beiden Seiten der schmalen Straße stehen Leute in den Türen, an den Fenstern und auf den Dachterrassen. Er geht zu einer Frau, die mit ihrem Baby an ihrem Tor steht, und fragt sie: «Haben Sie Somen Pillai heute gesehen?» Die Frau rückt ihren Sari über der Brust zurecht, spielt mit ihrem Halskettenanhänger und sagt: «Ich habe ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Was ist passiert?»
«Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?»
Sie muss überlegen. Vier Männer aus vier verschiedenen Generationen tauchen aus ihrem Haus auf und treten auf ihn zu,um mit ihm zu reden. Es sind freundliche Leute, das liegt in der Natur der Menschen. Wer ihn nicht kennt, entscheidet sich immer dafür, ihm Respekt zu zollen. Bei Tageslicht ist er ein eleganter Mann mit leicht ergrautem Kinnbart.
Sie haben Somen Pillai lange nicht gesehen, erinnern sich jedoch nicht an den genauen Zeitpunkt. Er geht zu einem Haus auf der anderen Straßenseite und stellt dieselbe Frage. «Ich sehe Sie oft hier», sagt eine alte Frau. «Ich sehe Sie zu ihrem Haus gehen. Möchten Sie einen Becher Wasser? Es ist sehr heiß heute.»
«Ja, es ist sehr heiß.»
«Meine Enkelin sagt, die Welt wird bald zu Eis. Davon merkt man in Madras nicht das Geringste. Glauben Sie, die Welt wird zu Eis?»
«Wann haben Sie Somen Pillai zum letzten Mal gesehen?»
«Ungefähr alle drei Monate sehe ich seine Schwester. Sie kommt übers Wochenende. Sie studiert Medizin in Kerala. Heutzutage sind die Mädchen sehr klug. Aber den Jungen habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Das fällt mir erst jetzt auf, da Sie mich fragen. Ich habe ihn hier in der Straße aufwachsen sehen. Ich habe so viele hier aufwachsen sehen, der Gedanke, dass ich den Jungen ewig nicht gesehen habe, kam mir gar nicht. Vielleicht ist er irgendwo weit weg und studiert. Alle gehen doch weg, wissen Sie das nicht? Fragen Sie doch mal seine Eltern.»
Ousep geht zu jedem Haus und fragt nach Somen Pillai, doch niemand hat ihn in letzter Zeit gesehen. «Fragen Sie doch mal seine Eltern – sie wohnen dort drüben», sagt ein Mann, der seine im Haus geparkte Vespa neben der Haustür putzt.
«Ich habe sie schon gefragt, aber sie geben mir keine Auskunft. Etwas stimmt da nicht. Ich glaube, der Junge ist verschwunden.»
«Wie kann ein Junge verschwinden? Ich habe gehört, dass er aufs Loyola College geht.»
«Das hat man mir auch gesagt. Ich habe das überprüft – er geht nicht dorthin. Er ist verschwunden.»
«Warum fragen Sie nach dem Jungen?»
«Er hat sich von vielen Leuten, die ich kenne, Geld geliehen und ist jetzt verschwunden.»
Als Ousep das Straßenende erreicht hat, ist ihm klar, dass Somen Pillai seit unbestimmter Zeit von keinem Anwohner mehr gesehen wurde. Möglicherweise haben ihn seine Eltern auf ein College in einer anderen Stadt geschickt und wollen
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