LYING GAME - Weg bist du noch lange nicht
Prolog
Das Leben nach dem Tod
Wenn man tot ist, fehlen einem hauptsächlich die Kleinigkeiten. Das Gefühl, sich ins Bett legen zu dürfen, wenn man todmüde ist, der frische Duft der Luft von Arizona nach einem Sturm in der Regenzeit, die Schmetterlinge, die in deinem Bauch aufflattern, wenn du deinen Schwarm auf dem Schulflur siehst. Mein Mörder hatte mir all das kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag genommen.
Und wie das Schicksal es wollte – unterstützt durch eine Drohung meines Mörders –, trat kurz danach meine verschollene Zwillingsschwester Emma Paxton in mein Leben.
Als ich vor zwei Wochen starb, tauchte ich in Emmas Welt wieder auf, einer Welt, die sich von meiner grundlegend unterschied.
Nachdem ich meinen letzten Atemzug getan hatte, sah ich, was Emma sah, ging überall dorthin, wo auch sie hinging … und beobachtete. Ich beobachtete, wie Emma über Facebook mit mir Kontakt aufnahm und von einer Person, die sich für mich ausgab, zu mir nach Hause eingeladen wurde. Ich beobachtete, wie Emma von zaghafter Hoffnung erfüllt nach Tucson reiste, um mich zu treffen. Ich sah, wie meine Freundinnen Emma – die sie für mich hielten – einen Sack über den Kopf stülpten und auf eine Party mitschleppten. Ich stand neben ihr, als sie den Brief bekam, in dem mein Mörder sie darüber informierte, dass ich tot war, und ihr gleichzeitig androhte, sie ebenfalls zu töten, wenn sie irgendjemand erzählte, wer sie wirklich war.
Auch heute beobachte ich, wie Emma mein dünnes, weißes Lieblings-T-Shirt anzieht und mein schimmerndes Rouge auf ihren hohen Wangenknochen verteilt. Stumm sehe ich zu, wie sie in die Skinny-Jeans schlüpft, in denen ich früher meine Wochenenden verbracht habe, und in meiner Schmuckschatulle aus Kirschholz nach meinem Lieblingsanhänger sucht, einem silbernen Medaillon, das jeden Sonnenstrahl, den es einfängt, wie ein Prisma bricht und regenbogenfarben an die Wand wirft. Und ich schaue Emma schweigend über die Schulter, als sie eine SMS schickt und damit bestätigt, dass sie sich gleich mit meinen besten Freundinnen Charlotte und Madeline zum Brunch treffen wird, obwohl ich nicht denselben Wortlaut verwendet hätte. Davon einmal abgesehen stellt Emma mich sehr überzeugend dar – fast niemand hat bisher gemerkt, dass sie nicht ich ist.
Emma legt mit verunsicherter Miene mein Handy zur Seite. »Wo bist du, Sutton?«, flüstert sie nervös, als könne sie mich in ihrer Nähe spüren.
Ich würde ihr so gerne eine Botschaft aus dem Jenseits schicken: Ich bin hier. Und so bin ich gestorben. Aber leider haben sich mit meinem Körper auch meine Erinnerungen in die ewigen Jagdgründe verabschiedet und nur gelegentlich taucht ein Fragment meines Lebens vor meinem inneren Auge auf. Viel weiß ich nicht darüber, wer ich war, und wie ich gestorben bin, ist für mich genauso rätselhaft wie für Emma. Aber ich spüre in meinem Herzen – in meinen Knochen –, dass mich jemand ermordet hat. Und dieser Jemand beobachtet Emma genauso wachsam wie ich.
Macht mir das Angst? Ja. Aber durch Emma habe ich die Chance bekommen, herauszufinden, was in meinen letzten Augenblicken geschehen ist. Und je mehr ich darüber erfahre, wer ich war und welche Geheimnisse ich hütete, desto sicherer weiß ich, dass meine lang vermisste Zwillingsschwester in großer Gefahr schwebt.
Meine Feinde lauern überall. Und manchmal geht die größte Bedrohung von denen aus, die wir am wenigsten verdächtigen.
1
Ein glückliches Leben
»Bitte folgen Sie mir zur Terrasse.« Eine gebräunte, stupsnasige Rezeptionistin schnappte sich vier in Leder gebundene Speisekarten und marschierte durch den Speisesaal des La-Paloma-Countryclubs in Tucson, Arizona. Emma Paxton, Madeline Vega, Laurel Mercer und Charlotte Chamberlain folgten ihr und schlängelten sich an den Tischen vorbei, an denen Männer mit beigefarbenen Blazern und Cowboyhüten, Frauen im Tennisdress und Bio-Putenwürstchen mampfende Kinder saßen.
Emma ließ sich auf eine Bank auf der Stuckveranda sinken und starrte auf das Tattoo im Nacken der Kellnerin, als diese davonglitt – ein chinesisches Schriftzeichen, das wahrscheinlich »Glaube« oder »Harmonie« bedeutete. Langweilig.
Von der Terrasse aus sah man die Catalina Mountains, und alle Kakteen und Felsbrocken zeichneten sich in der Vormittagssonne gestochen scharf vor dem Hintergrund ab. Vor der Terrasse standen ein paar Golfspieler vor einer Abschlagstelle, diskutierten über den nächsten
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