Das verbotene Glück der anderen
fragt sich, warum er engherzig ist und Unni nicht. Unni wollte nichts für sich. Unni hatte
keine Erwartungen an das Leben
. Deshalb hatte Unni keinen Grund, Angst zu haben. Thoma will so vieles von der Welt, von den Menschen. Deshalb hat er Angst, und deshalb ist er engherzig.
Später am Abend geht er zum Friedhof, lehnt sich an den kahlen weißen Stamm des Eukalyptusbaums gegenüber von Unnis Grab und erzählt ihm, was geschehen ist. Als er mit seinem Bruder spricht, bewegt er die Lippen nicht. Sichtbar Selbstgespräche zu führen, ist zu beschämend, das weiß er besser als die meisten. Er redet über dies und das, erzählt Unni die letzten Neuigkeiten über ihre Mutter und in welcher Verfassung ihr Vater ist. Und er schildert ihm Mythili: «Sie ist jetzt größer als ihre Mutter, Unni. Sie spricht jetzt ganz leise, schreit nicht, streitet nicht, singt nicht, eigentlich redet sie kaum. Sie ist keine Quasselstrippe mehr.»
Thoma erinnert sich an die Zeiten, als er in Unnis Obhut war, wie sie Hand in Hand gingen, spielten und lachten. Wie Unni angedampft kam, wenn die anderen Jungen Thoma herumschubsten. Und er erinnert sich an den Tag, als Unni ihn durch ganz Madras führte, auf der spannenden Suche nach «weißem Zuckerrohr, das es wirklich gibt, Thoma, irgendwo in der Stadt gibt es weißes Zuckerrohr». Sie fuhren in überfüllten Bussen und mit dem Zug, sie gingen und rannten die Straßen entlang und suchten weißes Zuckerrohr und gingen mit dem festen Vorsatz nach Hause zurück, sich ein andermal erneut auf die Suche zu machen.
Thoma steht auf dem Friedhof, bis es dunkel wird, und als er geht, ist er froh, dass er keine Angst mehr hat, allein an so einem Ort zu sein. Er will an Geister glauben und hofft inständig, dass es irgendwo auf der Welt Geister gibt.
~
Nur wenn Ousep den ungepflasterten Weg zu Somen Pillais Haus hinuntergeht, hat er ausnahmsweise das Gefühl, in die Zukunft zu schauen. Auch an diesem Abend weiß er, was gleich geschehen wird. Noch bevor er ans Tor kommt, geht die Tür an der rosafarbenen Fassade auf, und der Mann und die Frau erscheinen flüsternd auf der Terrasse unter dem Portikus. Sie stützen die Ellenbogen auf das niedrige Eisentor und warten auf ihn. Somens Vater hat einen nackten Oberkörper, seine Mutter trägt einen Sari. Ousep sieht ihre Bäuche und ihre tiefen Nabel, die ihn anstarren, als seien sie die wachsamen Augen einer langen, unzerstörbaren, tropischen Ehe.
«Somen ist nicht zu Hause», sagt die Mutter.
«Wo ist er denn hingegangen?»
«Er ist bei einem Freund und kommt erst spät zurück.»
Ousep sucht die Fenster ab, er sucht nach einem Schatten, der sich verstohlen bewegt, nach einem Vorhang, der sich ein wenig verschiebt, nach einem Anhaltspunkt dafür, dass sich sein Opfer im Haus befindet, aber er sieht nichts.
Der Vater sagt: «Sie kommen ja jetzt jeden Tag hierher. Was ist passiert?»
«Wohnt er denn noch hier?», fragt Ousep.
«Das ist sein Zuhause.»
«Seit sechs Monaten versuche ich, ihn zu sehen.»
«Wir haben Ihnen schon mehrmals gesagt, dass er Sie nicht sehen will.»
«Und warum nicht?»
«Das müssen Sie ihn selber fragen», sagt die Mutter.
«Das versuche ich ja die ganze Zeit. Ich versuche, ihn zu sehen. Aber offensichtlich wollen Sie das nicht. Sie wollen mirnicht sagen, auf welches College er geht, Sie wollen mir nicht sagen, wo er jeden Tag hingeht oder was er tut.»
«Es ist nicht unsere Schuld, dass er Sie nicht sehen will», sagt der Vater.
«Ist er jetzt gerade im Haus?»
«Wir haben es langsam satt, Ousep.»
«Ich habe einen Jungen getroffen», sagt Ousep, «er heißt Sai Shankaran, und Sie kennen ihn. Er sagt, Somen sei von zu Hause weggelaufen.»
«Das ist Unsinn – sagen Sie das Sai Shankaran. Unser Junge ist bei uns.»
«Sai Shankaran sagt, Ihr Sohn sei vielleicht weggelaufen, um irgendwo in Frieden zu sterben.»
«Ousep», brüllt der Vater, «wegen dem, was mit Ihrem Sohn passiert ist, haben Sie mein Mitgefühl. Aber wünschen Sie das keinem anderen. Ich bin kein Trinker. Ich ernähre meine Familie und sorge für ihr Glück. Mein Sohn hat keinen Grund, sich umzubringen.»
«Kann ich hereinkommen? Dann können wir reden.»
«Der Deckenventilator funktioniert nicht», sagt der Vater. «Deshalb ist es sehr heiß im Haus. Wir müssen uns draußen unterhalten.»
Somens Mutter sieht ihren Mann ungläubig an und geht ins Haus, als wollte sie sich eine weit entfernte Ecke suchen und loslachen. Ousep fasst Somens
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