Das verbotene Glück der anderen
damit abgefunden, dass er seine grenzenlose Liebe zu ihr still ertragen muss.
«Kennst du dich mit Sonne und Mond aus?», fragt er, um ihr zu zeigen, wie breit gefächert seine Interessen sind. Sie sitzen in ihrem Zimmer – sie im Schneidersitz auf dem Bett und er ihr gegenüber auf einem Plastikstuhl.
«Was ist mit Sonne und Mond?»
«Die Sonne ist tausendmal größer als der Mond.»
«Ja und?»
«Sie sind aber so im Weltraum platziert, dass sie von der Erde aus am Himmel gleich groß wirken.»
«So habe ich das noch nie gesehen.»
«Unni hat mir das gesagt.»
«Und was ist dabei, wenn sie gleich groß sind?»
«Am Himmel sind sie haargenau gleich groß, Mythili. Es ist ein Rätsel, wie sie so im Weltraum gelandet sind, dass sie für uns gleichgroß aussehen. Sie sind da, wo sie sind, weil es nur so Leben auf der Erde geben kann.»
«Aber das ist ein Zirkelschluss», sagt sie.
Thoma tut so, als wüsste er, was ein Zirkelschluss ist, und nickt.
«Ich habe eine Englischlehrerin», sagt Mythili, «die zu uns sagt: ‹Mädchen, es ist doch erstaunlich, dass der Siedepunkt des Wassers genau einhundert Grad beträgt. Was für eine schöne runde Zahl uns der liebe Gott doch geschenkt hat.›»
Thoma lacht, um zu zeigen, dass er verstanden hat. Dann schweigen sie wie gewohnt. Doch er weiß, dass sie sich in letzter Zeit viel zu sagen haben. Er muss nicht mehr auf Unni zu sprechen kommen, sie fragt von selbst nach. Sie will unbedingt wissen, was sein Vater entdeckt hat. Thoma erzählt ihr, was er stückchenweise zusammengetragen hat, wenn sein Vater dem Deckenventilator betrunken Geständnisse machte, und was seine Mutter ihm gesagt hat. Mythili hört zu und bekommt ein trauriges Gesicht.
Ihre Laune hellt sich normalerweise auf, wenn sie sich Unni ins Gedächtnis ruft und erzählt, woran sie sich erinnert – meistens ist es nichts Bemerkenswertes, das sie jedoch stark übertreibt. Beispielsweise seine Fähigkeit, Gedanken zu lesen. «Woher konnte Unni wissen, welche Karte ich gezogen hatte. Weißt du noch, Thoma? Ich fing an, den ganzen Kartenstapel in mein Zimmer mitzunehmen, machte die Tür zu und wählte eine Karte aus. Wenn ich wieder aus dem Zimmer kam, erriet Unni die Karte. Dann fing ich an, wie eine Blöde auf die Dachterrasse zu gehen und die Karte dort auszusuchen. Doch er wusste immer, an welche Karte ich dachte. Selbst als ich die ausgewählte Karte einmal in viele kleine Stücke gerissen habe, hat er richtig geraten.»
Sie redet immer weiter davon, als glaubte sie tatsächlich, dass Unni Gedanken lesen konnte, und lächelt dabei, was Thoma ärgert.Als er es nicht mehr aushält, sagt er zu ihr: «Das war ein Trick. Er hat deine Gedanken nicht gelesen. Niemand kann Gedanken lesen.»
«Aber wie hat er es dann gemacht?»
«Er hat es nicht gemacht. Er hat gar nichts gemacht.»
«Wie meinst du das?»
«Ich habe es gemacht.»
Mythilis Gesicht wird ernst. Noch nie hat sie Thoma so konzentriert angesehen. Er sagt zu ihr: «Weißt du noch? Wenn du eine Karte ausgesucht hast, war ich immer in der Nähe. Ich war der kleine Junge, den keiner bemerkte. Ich war unsichtbar. Das hat mir Unni gesagt, und es stimmte. Wenn du die Karte auswähltest, stand ich immer direkt hinter dir. In deinem Zimmer, im Treppenhaus, auf der Dachterrasse war ich immer dabei. Aber du hast mich nie gesehen. Unni hat mir beigebracht, wie ich ihm hinter deinem Rücken Zeichen geben sollte, die ihm die Karte verrieten. Manchmal tat Unni so, als könne er die Karte nicht erraten. Dann warteten wir, bis du in die Küche oder ins Bad gingst, und dann habe ich die Karte in ein Buch von dir gesteckt.»
Sie verschränkt die Arme und blickt traurig weg. «Ich wünschte, du hättest mir das nicht erzählt, Thoma», sagt sie. «Es war meine schönste Erinnerung an Unni.»
Thoma hatte Unni einst versprochen, dieses Geheimnis nie zu verraten. «Viele, viele Jahre später, Thoma, wird sie dich fragen: ‹Wie hat Unni das gemacht?› Aber du solltest es ihr nicht sagen. Du darfst es ihr niemals sagen.»
«Ich sag’s nicht weiter, Unni. Es ist unser Geheimnis.»
«Ja, unser Geheimnis, Thoma. Nur zwei Menschen auf der Welt kennen dieses Geheimnis. Unni Chacko und Thoma Chacko.»
Thoma spürt eine mächtige Stille in seinem Inneren. Es ist weder Sorge noch Scham, nichts derlei Gewöhnliches. Es ist nichts als Stille, anders kann man es nicht beschreiben. Er sieht denVerrat an seinem Bruder ohne Beschönigung – als Engherzigkeit. Thoma
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