Das verbotene Glück der anderen
gleichzeitig steif und als sei ihm nicht wohl in seiner Haut. Seine linke Wangeist aufgeblasen. Unni hatte einem Freund erzählt, die Jungen aus den Slums kämen in ihren besten Kleidern zur Sonntagsmesse und stünden, weil ihnen ihr gutes Aussehen nicht ganz geheuer sei, befangen da, rieben sich die Nasen, befühlten dauernd ihre Hemdsärmel und Hemdenkragen und blähten dabei, ohne es zu merken, eine Wange auf. Manche behielten während des Gottesdienstes ihre Sonnenbrillen auf, bis der Gemeindepfarrer es ihnen verbot. Ausnahmen wurden nur für diejenigen gemacht, die ganz eindeutig blind waren.
Etwa zu dieser Zeit, nach der Berechnung mancher handelte es sich um eine Zeitspanne von zwei Monaten, fing Unni an, sich für die Toten zu interessieren. Er verfügte über ein Netzwerk von Informanten, die ihm Bescheid sagten, sobald sie von einer Beerdigung Wind bekamen. Dann eilte er zur Kirche, stellte sich neben den Sarg und starrte den Leichnam an, während die Trauergäste in den Kirchenbänken einander vermutlich fragten, wer der Junge sei. Was er da tat, war eigentlich nicht seine Art und so auffällig, dass sich manch einer noch heute erinnert, wie er einsam dastand und in den Sarg spähte. Mindestens einmal hat er seinen Skizzenblock herausgeholt und versucht, das Gesicht eines Leichnams zu zeichnen – in diesem Fall eine alte Dame mit dicker Brille. Ein Trauergast ging zu ihm und bat ihn, damit aufzuhören. Doch Unni zeichnete weiter, bis noch mehr Trauergäste sich einmischten und der Priester den Gottesdienst unterbrach und ihn bat, die Kirche zu verlassen.
Der Anblick von Leichnamen in Särgen inspirierte ihn vermutlich zu seiner umfangreichsten Arbeit, dem
Totenalbum
. Während er daran arbeitete, zeigte er es ein paar Freunden, die seine Art von Humor irritierend fanden. Im
Totenalbum
zeichnete er seine Familie, seine Freunde und andere ihm Nahestehende als Tote in Särgen.
Jedem Einzelnen widmet er eine volle Seite, und insgesamtsind es zweiunddreißig Karikaturen, unter denen auch ein Selbstporträt ist. Das
Totenalbum
ist der einzige Comic in Buchform. Die Porträts füllen es nur zur Hälfte – die andere Hälfte ist leer. Er hatte das Buch als Serie konzipiert, der er neue Bekannte hinzufügen wollte. Manche Porträts wollte er sogar noch einmal zeichnen, weil die Porträtierten allmählich älter wurden. Er wollte das Vergehen der Zeit in unvergänglichen Särgen einrahmen. Wenn er, wie er bestimmt gehofft hatte, länger gelebt hätte, wäre aus dem
Totenalbum
ein gigantisches, mehrbändiges Werk geworden.
Zu Beginn sieht man seine Mutter, die mit der Voreingenommenheit eines Sohnes gezeichnet ist. Wie bei den anderen Karikaturen handelt es sich um eine Ansicht von oben. Mariamma liegt friedlich und ein wenig dünner als in Wirklichkeit in einem schwarzen Sarg, die Arme über dem Bauch verschränkt. Wie fast alle anderen Porträts hat sie etwas Ernstes, Würdevolles. Nur Ousep kommt nicht so gut weg: Seine Hände und Beine hängen aus dem Sarg heraus, sein Oberkörper ist nackt, und statt des weißen Leichentuchs bedeckt ihn von der Taille abwärts eine Lungi. Seine linke Hand hängt an einem Tropf, der neben dem Sarg steht. Die Flüssigkeit, die er intravenös erhält, stammt unverkennbar aus einer goldenen Flasche Honeydew-Rum.
Der Humor des
Totenalbums
liegt in der Gesamtkonzeption: Seite für Seite sieht man Menschen in schwarzen, rautenförmigen Särgen liegen. Doch nicht alle fanden das lustig.
Mariamma hatte ihr Porträt gesehen, als Unni damit fertig war – und war gekränkt. Kein Sohn, sagte sie, zeichne seine eigene Mutter in einem Sarg, schon gar nicht, wenn sie noch am Leben sei. Ousep weiß noch, dass er eines Morgens Bruchteile ihres Ärgers mit anhörte. Das war eine Ewigkeit her. Wie würde sie reagieren, wenn sie erführe, was Unni einem Freund über siegesagt hatte? Beim Fahrradaufpumpen hatte er ihm gesagt, wenn seine Mutter noch am selben Abend stürbe, würde ihm das nicht viel ausmachen. «Ich könnte ihren Schädel problemlos als Behälter für Stifte benutzen», sagte er. Das meinte er sicher nicht ernst. Wahrscheinlich verwendete er den Schädel des von ihm am meisten geliebten Menschen nur als Beispiel innerhalb eines sehr viel weiteren Argumentationszusammenhangs. Doch der Freund erinnerte sich daran, weil er sich moralisch darüber entrüstet hatte.
«Unni war ein guter Mensch, doch, das war er wirklich, aber manchmal sagte er schreckliche Dinge. Der Schädel
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