Das verbotene Glück der anderen
übernachtet und sich mit den Jungen die Zähne geputzt. Sie hat zugehört, wie deren Mutter ihnen Geschichten aus ihrem Dorf und einmal sogar eine kurze Geschichte der Indischen Rupie erzählte. Wenn Mariamma in einen von ihren Zuständen geriet und Unni sie zum Lachen bringen wollte, spielte Mythili immer mit. An ruhigen Nachmittagen saß sie bei Mariamma und versuchte, herauszufinden, warum sie manchmal durchdrehte. «Ich habe einfach mehr Energie als andere Frauen», sagte sie einmal. «Wenn ich in einem Land leben würde, wo Frauen ab und zu ein paar Kilometer rennen dürften, wäre ich sicher kerngesund.»
Früher, als Mariamma noch jung war, rannte sie viel. Sie rannte über Berge und Flussbrücken und durch winzige Dörfer, in denen es ganz still wurde, wenn das Mädchen in weitem Rock barfuß hindurchfegte, als sei eine unsichtbare Menschenmeutehinter ihr her. An manchen Tagen hörte Mariamma die Leute gutmütig sagen: «Renn ruhig weg, wenn es sein muss, aber hast du nicht aus Versehen deinen Liebhaber abgehängt?», oder: «Ist ja gut, wenn deine Mama dich nicht will, nehmen wir dich auf.» Doch zu guter Letzt musste sie das Rennen aufgeben. Die Leute redeten. Anscheinend hatten Mädchen gemächlich zu gehen, mit bunten Schirmen und Taschentüchern in den Fäusten.
Mythili kämpfte jeden Tag mit ihrer Mutter um die Erlaubnis, wieder zu den Chackos gehen zu dürfen. Es lohnte sich. Was machte es schon aus, dass Unni beinah ein Mann war. Diese Vorstellung gefiel ihr sogar. Die Vorstellung von Unni als Mann gefällt ihr immer noch. Vielleicht will sie in Wirklichkeit sagen, dass ihr die Vorstellung von einem Mann gefällt, der Künstler ist, ein schöner Mann, der sich seiner Schönheit nicht ganz bewusst ist, der an sehr heißen Tagen nach Ingwer riecht und sich einbildet, er werde nie Angst haben.
So erinnert sich ein dreizehnjähriges Mädchen an den siebzehnjährigen Nachbarsjungen. Wesentlich ist, dass in Mythilis Erinnerungen an Unni die Zeit stillsteht – er ist immer siebzehn, und sie immer dreizehn. Obwohl sie ihn fast ihr Leben lang kannte, gelten ihre Erinnerungen vor allem dem siebzehnjährigen Unni, dem Unni im letzten Jahr seines Lebens. Der Junge davor war ihm ähnlich, er war ebenso liebenswert und wichtig, aber ein anderer Mensch. Warum sie das so empfindet, weiß sie nicht. Ihr ist nicht ganz klar, ob er sich in den letzten Monaten seines Lebens verändert hat, sich physisch so verändert hat, dass er zu einem Berg von einem Jungen geworden war, wie ihre Mutter vorwurfsvoll gesagt hatte. Oder war es nur so, dass die dreizehnjährige Mythili kurz davor war, eine Frau zu werden? Beides ist möglich. Unni und Mythili standen genau zum selben Zeitpunkt jeweils an einer Kreuzung.
Eine bleibende Erinnerung aus dieser Zeit bezieht sich auf einenAugenblick von zweideutiger Harmlosigkeit – er ereignete sich in der Pasamurthy Street, wo die Jungen der St.-Ignatius-Schule und die Mädchen der Fatima-Klosterschule morgens auf dem letzten Stück Schulweg zusammenströmen und auf eine Schar Romeos treffen – unterernährte junge Männer mit knackigen Hintern in knallengen Jeans, die alle schwarze Sonnenbrillen tragen und als Klone von Filmschauspielern Sprüche klopfen, Lieder singen, ewige Liebe offerieren sowie eine Heirat in fernen Tempeln und ganz genau zwei gesunde Kinder pro Nase.
Schon seit Jahren geht sie mit Unni diese Straße entlang. Sie trägt ein weißes Hemd und einen olivgrünen Rock, und er ein weißes Hemd und khakifarbene Hosen. Mit der Zeit sind ihre Körper allmählich auseinandergerückt, Zentimeter für Zentimeter. Einst gingen sie Hand in Hand, Unni legte den Arm um ihre Schulter, er rannte mit ihr auf den Armen die ganze Straße entlang, dann gingen sie, ohne sich an den Händen zu halten, und zu guter Letzt liefen sie, wie ihre Mutter verfügt hatte, mit einer Armlänge Abstand nebeneinander her.
«Mein Arm oder seiner?»
«Halt den Mund, Mythili.»
Der verweilende Augenblick gehört in die Zeit, als der Phantomarm sie voneinander trennte. Sie sah einen Jungen am Straßenrand, einen halbnackten Arbeiter, der das Pflaster aufgrub und Leitungen legte. Er war schlank und kräftig, und sie bemerkte das Spiel seiner Bauchmuskeln. Sie dachte, «was für ein prächtiger Anblick», und einen Augenblick später fiel ihr auf, dass er fast denselben Körper wie Unni hatte. Sie genierte sich, und Unni war plötzlich sehr präsent, und ein namenloses Verlangen regte sich in ihr.
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