Das verbotene Glück der anderen
seiner eigenen Mutter als Behälter für Stifte.»
«Hat er sich ihren Schädel noch für etwas anderes vorgestellt? Oder nur für Stifte?»
«Nur für Stifte.»
«Bist du ganz sicher? Hat er ‹Behälter für Stifte› gesagt oder ‹Behälter für Bleistifte›?»
«Behälter für Stifte.»
Thoma muss acht Jahre gewesen sein, als er in das
Album
aufgenommen wurde. Er füllt den Sarg nur zur Hälfte aus. Seine Haare sind gekämmt, und anders als in Wirklichkeit strahlt sein Gesicht engelhaft.
Ousep findet das
Totenalbum
insgesamt lustig, nicht jedoch Thoma in einem Sarg. Er hat Angst, ihn auch noch zu verlieren. Wer kann einen Jungen aufhalten, der kopfüber hinunterspringen will?
Im
Totenalbum
finden sich außerdem Mythili, wie sie früher war, Somen Pillai, Sai Shankaran sowie viele von Unnis Freunden, Lehrern und Nachbarn, einschließlich Mythilis Eltern. Vier Personen lassen sich nicht identifizieren, unter ihnen ein würdevoller alter Mann, der wirklich tot aussieht. Keiner von Unnis Freunden konnte die vier identifizieren.
Es ist ein melodramatischer Zufall, dass Unnis Selbstporträt die Cartoonserie beschließt – Unni in seinem Totenschrein. Und natürlich fragt sich seine Mutter, ob es sich dabei um den Abschiedsbrief handelt, den sie verdient hat. Hat sich der Junge an dem Tag, als er von der Dachterrasse sprang, als jemand gezeichnet, der im Sarg liegt? Handelt es sich um eine Botschaft, um den Schlüssel zu dem ganzen Rätsel? Der Gedanke ist nicht abwegig, doch Unnis Freunde erinnern sich daran, das Selbstporträt Monate vor seinem Tod gesehen zu haben, da sind sie sich sicher.
Ousep hat das Kinn in die Hand gestützt und betrachtet das Porträt liebevoll, das etwas schmerzlich Anmutiges hat. Unni mit seinem riesigen Kopf und dem hohen Haarwust, dem klaren, schönen Gesicht und dem herben Körper eines Bauern. So hatte er ausgesehen, als man ihn in einem Sperrholzsarg in die Kirche trug.
Obwohl es langsam Zeit wird, ist sie noch nicht wieder da. Was ist, wenn sie nicht zurückkommt, wenn sie einen Weg gefunden hat, ihn zu verlassen? Aber das ist kaum wahrscheinlich. Wo sollte sie denn hingehen? Jeder will fliehen, doch damit Mariamma aus ihrem Heim entflieht, muss eine Menge passieren.
Zuerst müssen ein paar Sozialisten sterben. Und das Land, das sie zerstört haben, muss mit seinen dahinschwindenden Dollarreserven an den äußersten Rand des Ruins abrutschen, ein Prozess, der bereits begonnen hat. Wenn die Regierung kein Geld mehr für Importe hat, würde die Regierung tun, was Mariamma schon ihr Leben lang tut: ihr Gold verpfänden, um Öl zu kaufen. Das Gold auszuhändigen, wäre eine Demütigung, die das ganze Land verstünde, und die neuen jungen Männer würden den Augenblick kollektiver Scham listig ausnutzen und die alten, verbrauchten Männer davon überzeugen, dass ihnen keine andereWahl bleibt, als den indischen Markt für ausländische Firmen zu öffnen. Die Liberalisierung, die folgen würde, würde Thoma geschickt für sich nutzen müssen, um seine Mutter in ein schönes neues Haus führen zu können, weit weg von hier. Bis eine Frau entfliehen kann, muss eine Menge passieren.
Aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie also noch in der Kirche, mit den Dienstmädchen, den Slum-Dandys und anderen Neukonvertiten, die zur tamilsprachigen Messe gehen. Sie geht lieber zur englischsprachigen Messe, schämt sich aber zu sehr, wenn sie in ihrem abgetragenen, alten Sari und in Gummischlappen neben den Reichen steht, die glänzende, gebügelte Kleider tragen und nach Glück duften. Nach der Messe geht sie zur Beichte, und der Priester wird wieder verblüfft sein, weil sie ihm nicht ihre Sünden sagt, sondern stattdessen sofort nach den Bußübungen verlangt. Wenn die Strafe, die er ihr auferlegt, zu mild oder zu streng ist, wird sie ihn korrigieren und ihm helfen, die richtige Anzahl der zu sprechenden Gebete zu finden. Dies hatte Unni über seine Mutter herausgefunden. Der geheime Misanthrop konnte den Herzen der Leute das Allerunwesentlichste entlocken. Das Rätsel seines eigenen Todes hätte er wahrscheinlich im Handumdrehen gelöst.
Ousep klappt das
Totenalbum
heftiger zu, als er wollte, und legt es auf den Cartoonstapel auf seinem Schreibtisch. Ohne viel Hoffnung starrt er die wahllos aufeinandergehäuften Spottschriften an, die widerwillig die Geschichte eines Jungen erzählen. Er überlegt, ob er die anderen Comics aus der Holztruhe holen und sie nochmals durchgehen soll. Vielleicht
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