Das verbotene Glück der anderen
Doch dann verging der Augenblick, und sie war wieder ein Kind.
Zu jener Zeit war Unni auf der Pasumarthy Street eine Art Volksheld, der die Herzen der Schulmädchen in den olivgrünenFaltenröcken höher schlagen ließ. Selbst die Romeos zogen tief und unglücklich an ihren Zigaretten und musterten ihn, umwölkt vom Zigarettenrauch. Eines Tages starrte ihn ein Romeo an und sagte: «Held, komm her, ich will mit dir reden.» Da musste Mythili lachen. «Er hat dich gerade angemacht, Unni», sagte sie. Unni lachte schallend, und sie war stolz. Noch nie zuvor hatte sie einen Witz gemacht, der ihn so zum Lachen brachte.
Die älteren Schülerinnen an ihrer Schule nahmen sie nun öfters zur Seite und fragten sie in einer stillen Ecke über Unni aus. Sie wollten seine Adresse wissen, seine Telefonnummer, und sie wollten wissen, was für eine Frau seine Mutter war. Sie nannten ihn «den heißen Cartoonkünstler». Mythili sah sich die älteren Mädchen genau an, denn wenn er schon eine Freundin haben musste, dann eine, die vor ihren Augen bestehen konnte. Den dicken, aufgeregten Mädchen mit Damenbart half sie nicht weiter, doch den hübschen, modernen Mädchen gegenüber, deren Röcke fünf Zentimeter kürzer waren, als es an ihrer Schule üblich war, zeigte sie sich etwas großzügiger.
Mythili befindet sich in der Reading-Circle-Leihbücherei. Sie sieht sich an, was für Bücher in den Regalen stehen, denkt dabei aber an Unni, der einen Bibliotheksausweis hatte. Sie fragt sich, ob in irgendeiner Schublade noch eine Aufstellung der von ihm ausgeliehenen Bücher liegt und welches Buch er zuletzt gelesen hat. Ob er es zurückgegeben hat?
Seine Lektüre gefiel ihr nicht. Die Bücher, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten, stießen sie immer ab. Er las nie Romane oder was man normalerweise liest. Er las viel über das Gehirn – nicht nur das des Menschen interessierte ihn, sondern jede Art von Gehirn. Selbst mit der Zukunft des Gehirns befasste er sich. Seine Bücher waren derjenige Teil seines Lebens, über den sie nicht viel wusste und den sie langweilig und trostlos fand.
«Was liest du gerade, Unni?»
«Das hier.»
«
Folie-à-deux
von Philippe Boulleau?»
«Genau.»
«
Vous lisez
Folie-à-deux
par Philippe Boulleau?
»
«Oui.»
«Das klingt nach einem französischen Buch, Unni.»
«Ich kann keine französischen Bücher lesen, Mythili. Ich lese das Buch auf Englisch.»
«Das weiß ich. Aber was heißt
Folie-à-deux
?»
«Wahnsinn zu zweit oder Zweierwahn.»
«Und was soll das heißen?»
«Es ist ein neuropsychiatrisches Phänomen.»
«Du siehst komisch aus, Unni, wenn du große Worte benutzt.»
«Ein neuropsychiatrisches Phänomen.»
«Aber was ist damit gemeint?»
«Ein Geistesgestörter überträgt seinen Wahn auf jemand anderen, und beide teilen dann dasselbe Wahnsystem. Sie bestätigen sich gegenseitig, dass das, was sie sehen, wahr ist. Das nennt man Zweierwahn.»
«Glaubst du, dass es das wirklich gibt?»
«Wir sind davon umzingelt, Mythili.»
«‹Folie-à-deux›. Der Ausdruck gefällt mir nicht.»
«Ich hab mir gerade was überlegt, Mythili. All die Endsilben im Französischen, die die Franzosen nicht aussprechen, diese vergeudeten Silben, wohin verschwinden die eigentlich?»
«Wohin denn, Unni?»
«Sie schließen sich der ‹Untergrundorganisation der Beleidigten Französischen Silben› an.»
«Echt?»
«Ja.»
«Was macht diese Untergrundorganisation?»
«Die Silben versuchen, die Menschheit zu beeinflussen. Über Jahrhunderte und Äonen hinweg versuchen sie, die Menschen zu beeinflussen. Sie liefern den Menschen Ideen, Gedanken, Zweifel, Aha-Erlebnisse. Nur um ihnen zu helfen, etwas zu erschaffen, vermutlich eine Maschine, deren Namen alle Silben der ‹Untergrundorganisation der Beleidigten Französischen Silben› in sich vereint, so dass sie alle ausgesprochen werden. Die Menschen glauben, die Naturwissenschaft sei ganz allein ihre Schöpfung, aber das stimmt nicht, Mythili. Es sind die beleidigten französischen Silben, die uns diese Ideen schenken.»
«Du bist ja verrückt, Unni.»
«Der Führer der Organisation ist das X.»
«Das X?»
«Ja, das X ist im Französischen selbst heute noch der am meisten gedemütigte Buchstabe. Es gab Zeiten, als keiner in Frankreich diesen Buchstaben aussprach. Lach das X nicht aus, Mythili. Es hat jahrhundertelang gewartet und viele Generationen mit Ideen gespeist. Bis die Menschheit zu guter Letzt die X-Strahlen oder Röntgenstrahlen
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