Das verbotene Glück der anderen
sieht auf einmal etwas: Der Horizont liegt höher als zuvor, und ein gigantischer blauer Nebel zieht auf. Der Golf von Bengalen kommt. Er schreit, springt in seine Unterhose und erinnert sich blitzschnell, dass sie aus einem Hemd seines Vaters geschneidert ist. Dann rennt er aus dem Badezimmer. Im Gang überfällt ihn eine alte Angst: Ist er wie seine Mutter? Wird er, wie sie, dauernd unglaubliche Dinge erleben, die andere nicht sehen können, wird er mit den Sorgen der Vergangenheit geschlagen sein und ein Leben lang Selbstgespräche führen, weinen und lachen müssen und seine Verwandten bei all ihren Tauf- und Familiennamen nennen und sie bis in alle Ewigkeit dasselbe fragen müssen? Er hört seine Mutter in der Küche, hört, wie ihre Stimme lauter wird und zu beben beginnt.
Mit demselben Blick wie Unni steht er in der Küchentür. «Annamol Chacko», sagt sie zum Abzugsventilator, «Ihr und Eure neun Töchter habt Euren Sohn besucht, als wir in Kottayam wohnten. Ich war im achten Monat schwanger mit Unni. Trotzdem habe ich für Euch alle Tee gekocht. Und da habt Ihr gesagt, ich sei zu gebildet, um guten Tee zu kochen. Und dann habt Ihr und Eure Töchter alle gelacht.»
Thoma hat nie verstanden, warum dieser Augenblick seinerMutter so viel bedeutet. Kritik an ihrem Tee sollte einer klugen Frau wie ihr eigentlich nicht so viel ausmachen. Doch Unni hat ihm einmal gesagt, dass die Worte mancher Frauen ungeheuer ungerecht seien und dass nur andere Frauen diese Ungerechtigkeit verstünden. «Es geht gar nicht um den Tee, Thoma, um Tee geht es nie.»
Thoma erinnert sich noch vage an seine Großmutter, die jeden Sommer zu Besuch kam. In seiner Erinnerung ist sie eine winzige Frau mit einem Ponygesicht und grausamen Augen, die zu allem, was sie sahen, eine Meinung hatten. Gewöhnlich trug sie eine weiße Bluse und war in teures, weißes Tuch gehüllt, an das ein Kreuz geheftet war. Unterhalb der Taille war sie fest mit einem anderen weißen Tuch umwickelt, das sich hinten wie ein Vogelschwanz bauschte. «Wie ein Fächer, der ihr den Hintern kühlt», sagte Unni. Sie kam immer mit dem Nachtzug aus ihrem Dorf, begleitet von ihrem schweigsamen Mann, der mindestens zwei Jackfrüchte über der Schulter trug und ein Arsenal furchtloser Fliegen aus Kerala. Aus irgendeinem Grund lief sie immer voraus, und er ging hinterher.
Unni sagte, der Feind seiner Mutter sei auch ihr beider Feind, und daher beschloss Thoma, seine Großmutter zu hassen, obwohl sie ihn sehr zu lieben schien. Und Thoma hatte guten Grund, seine Großmutter nicht zu mögen. Kaum war sie angekommen, drosch Mariamma grundlos mit dem Stock auf Thomas Beine ein und brachte ihn dann ins Haus, wo sie ihn küsste und sagte, es tue ihr leid. Unni schlug sie nie, vermutlich, weil er jemand war, den keiner je schlug, oder vielleicht behandelte sie ihn auch anders, weil er älter als Thoma war. Manchmal jedoch jagte sie mit dem Besen in der Hand hinter Unni her, und beide lachten. Thoma war enttäuscht, dass seine Mutter, die normalerweise sehr nett war, sich jedes Mal, wenn seine Großmutter zu Besuch kam, so rätselhaft verhielt. Doch dann erklärte ihm Unniirgendwann, dass dies im Dorf Tradition sei. Die eigenen Kinder vor der Schwiegermutter zu schlagen, war eine Form der Beleidigung. Wahrscheinlich hatte er recht, denn Annamol machte diese Prügelstrafe schwer zu schaffen, und zwar nicht, weil sie Thoma so sehr liebte. Sie blickte dann immer traurig zu Boden und weinte, wobei ihre Nasenflügel ab und zu bebten.
Thoma verblüffen die telepathischen Fähigkeiten der Frauen. Es grenzt an ein Wunder, dass eine Frau etwas Seltsames tut und die andere Frau direkt versteht, was sie damit sagen will. Eines Morgens sagte seine Mutter zu ihm: «Thoma, wenn ich alt bin, gehe ich in ein Altersheim, damit ich euch nicht zur Last falle.» Thoma verstand nicht ganz, warum sie das sagte, da doch für eine solche Entscheidung noch so viel Zeit war. Doch dann sagte Unni zu ihm: «Das war nicht an dich gerichtet, Thoma, sondern an Annamol Chacko. Mutter will der alten Frau deutlich machen, dass sie ihr verdammt auf die Nerven geht.»
Thoma ist froh, dass er keine Frau ist. Er kann versteckte Hinweise nicht gut enträtseln, und wenn er eine Frau wäre, würde er die Beleidigungen, die ihm die anderen Frauen permanent ins Gesicht schleudern, schlicht verpassen. Was ja gar nicht so schlecht ist, wenn man es recht bedenkt.
Trotz alledem kam Annamol jeden Sommer wieder zu Besuch, bis
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