Das verbotene Land 2 - Drachensohn
die von der Illusion verborgen wurde. Im Morgenlicht wehten die Trugbilder durch seine Gedanken, als wären sie auf Seide gemalt. Echte Bäume und Trugbäume Seite an Seite. Lüge und Wahrheit, beide fest und unnachgiebig.
Die Stimmen waren real, doch sie klangen wie aus weiter Ferne und wurden leiser. Auf der einen Seite der Mauer die Mönche, die wütend waren, ihre Opfer verloren zu haben, und den Zorn des Drachen fürchteten. Auf der anderen Seite die Stimmen von seinem Bruder und Evelina, die allmählich verklangen. Dazu das unablässige Murmeln des Flusses.
Nem erhob sich aus seiner Hockstellung und drang tiefer in den Wald ein. Immer wieder musste er Halt machen. Obwohl der Drache in ihm in der Lage war, seine Verletzungen zu heilen, schwächte ihn der Blutverlust. Die Wunde schmerzte, doch dieser Schmerz würde bleiben. Er hatte noch eine Aufgabe zu erledigen, und ihm blieb nicht viel Zeit, sein Versprechen zu erfüllen. Grald hatte mit der unerwarteten Verwüstung seiner halben Stadt zu tun, doch das würde ihn nicht lange aufhalten. Er würde Fragen stellen, Erklärungen verlangen.
Zum Glück wusste Nem, wo er anfangen musste zu suchen. Das Fährtenlesen hatte sie ihn gelehrt, seit er laufen konnte. Bald fand er die Spur im Gras, die ihn zu Bellonas Körper führte.
Nem hockte sich auf seinen Tierbeinen daneben. Der Tod hatte ihrem Gesicht die Strenge genommen und die Falten, die von Sorge, Trauer und Bitterkeit sprachen, geglättet. Die blutigen Lippen, die noch im Tod seinen Namen geflüstert hatten, waren geschlossen. Jetzt sah sie jung aus, jünger als er sie je gekannt hatte. Er griff nach dem Pfeil, der immer noch in ihrem Hals steckte und zog ihn heraus. Die Waffe schob er in seinen Gürtel.
Dann hob er die Frau, die ihn aufgezogen hatte, liebevoll auf und trug ihren Körper zum Fluss.
Er legte sie in eines der Boote, die am Ufer lagen. Wie in ihren Heldensagen verschränkte er die Hände über ihrer Brust und wusch ihr Gesicht mit Flusswasser. Den Pfeil, der sie getötet hatte, zerbrach er und legte die Bruchstücke ihr zu Füßen ins Boot.
Danach zog er es ins Wasser und watete damit hinaus. Als er eine Stelle erreichte, wo die Strömung das Boot davontragen würde, blickte Nem ein letztes Mal in das stille, fahle Gesicht. Er nahm ihre kalte Hand.
»Möge deine Seele in Frieden ruhen, Bellona«, wiederholte er das alte Geburtstagsritual. »Mein Name ist Nemesis, und ich werde meinem Namen Ehre machen.«
Seine blauen Augen lösten sich von ihr und sahen zurück nach Drachenburg. »Das schwöre ich bei deinem Blut und bei den Tränen meiner Mutter.«
Er verpasste dem Boot einen Schubs, der es in die wirbelnde Strömung brachte, wo der Fluss Bellona bis zum weiten Ozean tragen sollte.
Nem sah ihr nicht nach. Er war bereits zu lange fort. Er watete zurück an Land. Zurück in die Realität.
Zurück in die Illusion.
Danksagung
Robert Krammes danke ich für die Zeichnung von König Edwards Drachenkanone. Ihm und seiner Frau Mary danke ich ganz besonders für ihre jahrelange Freundschaft und Unterstützung.
Mein Dank gilt auch meinem Herausgeber, Brian Thomsen, der stets mit Vorschlägen und Anregungen bereit stand und einfach da war.
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