Das verbotene Land 2 - Drachensohn
gesehen hatte, und der Drache war währenddessen verwundbar wie ein Schmetterling, der gerade aus seinem Kokon schlüpft. Wenn er es schließlich geschafft hatte, waren seine Flügel nass und verklebt.
Darauf hoffte Drakonas. Damit der Drache erschien, musste er dessen Menschenkörper töten. Also musste er Grald umbringen, ehe der Drache diesen Körper verteidigen konnte. Wenn der Menschenkörper nicht mehr lebte, blieb dem Drachen keine andere Wahl, als ihn zu verlassen und dabei in seine Drachengestalt zurückzukehren.
Drakonas hatte nicht vor, mit dem Drachen zu kämpfen. Dazu musste er selbst Drachengestalt annehmen. Ein Zweikampf zwischen Drachen würde die halbe Stadt zerstören und Hunderte von Menschen töten. Der Zweibeiner wollte nur die wahre Identität des Drachen herausfinden. Sobald er diese kannte, würde er sie sofort dem Parlament mitteilen. Danach wäre diese Aufgabe erledigt. Das Parlament sollte selbst entscheiden, wie es gegen den abtrünnigen Drachen und seine Mitverschwörerin Maristara vorgehen wollte. Dann konnte Drakonas in Ruhe Markus retten und zu seinem Vater zurückbringen.
Ein letztes Mal begutachtete Drakonas den Stab, den er zum Speer umgerüstet hatte. Es war eine einfache, grobschlächtige Waffe, doch sie würde ihre Dienste tun. Grald musste jeden Moment hier sein. Den im Schatten verborgenen Drakonas würde er nicht bemerken. Er würde zum Haus gehen. Dann war sein breitschultriger Rücken das Ziel.
Drakonas umfasste seinen Speer und hielt sich bereit. Er musste sauber zielen, ein schneller, kraftvoller Wurf, der zu einem schnellen, sauberen Tod führte. Er wollte Grald nicht nur verwunden. Der Drachen durfte keine Chance haben, nachzudenken oder gar zu sich zu kommen.
Der Schreck und die Überraschung waren entscheidend.
»Drakonas.«
Die Frauenstimme hinter ihm überrumpelte Drakonas so sehr, dass ihm fast sein Menschenherz stehen geblieben wäre. Eine Hand legte sich sanft auf seinen Arm. Jemand stand neben ihm. Er warf einen Blick über die Schulter.
Es war die Nonne. Erst wusste er nicht, woher er sie kannte, doch dann erinnerte er sich. Er hatte sie bei Nem gesehen, als dieser sich damals am Bein verletzt hatte.
»Verschwindet hier, Schwester«, forderte Drakonas sie kurz angebunden auf. »Das geht Euch nichts an.«
»Oh, doch«, widersprach die Nonne.
In diesem Moment wusste Drakonas Bescheid. Er wusste es, noch ehe der Schatten hinter der Schwester seine Flügel ausbreitete.
Splitternd zerbarsten seine Gedankenfarben und regneten um ihn herab.
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich weiß, Drakonas«, sagte Anora leise. Ihre Farben waren aschgrau. »Und du wirst es auch nie verstehen – wie schade.«
Ein Blitz jagte aus ihrem Rachen.
32
Nem drückte die Hand auf den Stich in seiner Brust. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor, das sein Hemd rot färbte. Er machte einen Schritt, taumelte und sackte gegen die Wand.
»Lass mich los! Er ist noch nicht tot!«, tobte Evelina, die jetzt von Markus festgehalten wurde.
Sie war außer sich vor Wut und Mordlust. Als Markus versuchte, ihr das Messer abzunehmen, ging sie auch auf ihn los. Schließlich drehte der Prinz ihr mit einem Ruck den Arm um. Klirrend fiel das Messer zu Boden.
Mit ausgestreckter Hand kam Nem auf ihn zu.
Markus sprang dem Bruder entgegen, um Nem zu stützen oder ihn davon abzuhalten, das Messer zu ergreifen, oder beides. Er wusste es selbst nicht so genau. Doch ehe er ihn erreicht hatte, brach Nem zusammen.
Der Drachensohn versuchte vergeblich, sich noch einmal aufzurichten. Er war zu schwach. So sackte er in sich zusammen und blieb reglos liegen. Das Blut aus seiner Wunde färbte den Boden dunkel.
Mit einem triumphierenden Aufschrei wollte Evelina nach ihrem Messer greifen. Markus hinderte sie daran.
»Hör zu«, sagte er, schüttelte sie und zwang sie, ihn anzusehen. »Er kann dir jetzt nicht mehr gefährlich werden. Du hast ihn schwer verletzt, vielleicht sogar umgebracht. Die wahre Gefahr ist der Drache, Nems Vater. Nem hat seinem Vater verraten, wo ich bin, und wenn Grald sieht, was seinem Sohn zugestoßen ist, wird er uns beide töten. Wir müssen hier weg. Sofort! Verstehst du?«
Er schüttelte sie noch einmal, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
»Ja«, sagte Evelina benommen. Sie stand bei Nem und starrte auf ihn herab. »Ich verstehe. Wir müssen verschwinden. Weg hier.«
Doch sie rührte sich nicht von der Stelle. Als Markus nach ihr griff, bemerkte sie die blutigen
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