Das verbotene Land 3 - Drachenbruder
Grald.
Markus fragte sich, was er Evelina gegenüber wirklich fühlte. Liebte er sie? Mit schmerzhafter Klarheit erinnerte er sich an den Anblick ihrer hübschen Beine, als sie auf der Flucht vor den Mönchen die Röcke gerafft hatte. Wenn er jetzt zu ihr hinüberblickte, sah er das eine Mal das Blut seines Bruders, das andere Mal den verführerischen Schatten zwischen ihren vollen Brüsten.
So wie Evelina hatte ihn noch nie eine Frau angesehen – bewundernd, liebevoll, anhimmelnd. Sie hatte ihn beim Wirken seiner Magie erlebt und nicht entsetzt reagiert. Dabei hatte er weitaus mächtigere Zauber beschworen, nicht nur Staubkörnchen in Elfen verwandelt. Er stellte sich vor, wie seine Lippen ihren weichen Mund berührten, wie seine Hand ihre schweren Brüste liebkoste, und dabei erfüllte ihn ein so loderndes Verlangen, dass er seine Gedanken gewaltsam im Zaum halten musste, um nicht ihre prekäre Lage zu vergessen.
Jedoch – selbst wenn er in seinen Träumen ihre Lippen küsste, sah er, wie diese sich vor Wut verzerrten. Er sah, wie die Hand, die ihn streichelte, seinem Bruder ein Messer in den Leib stieß. Er sah das Blut auf ihre Kleider spritzen, während sie das Messer zurückzog, um ein zweites Mal zuzustoßen.
Plötzlich begriff Markus. Zwischen Nem und Evelina gab es ein unausgesprochenes, dunkles Geheimnis, das keiner von beiden ihm anvertraut hatte. Markus kannte Evelinas Version der Geschichte. Jetzt wollte er unbedingt die von Nem hören. Sein Bruder hatte versucht, sie ihm mitzuteilen, aber Markus hatte voreilige Schlüsse gezogen und ihn abgewiesen.
Jetzt war es zu spät. Evelina würde ihm gewiss nicht die Wahrheit sagen, und Nem konnte es nicht, zumindest nicht jetzt. Vielleicht würde Markus später irgendwann mental mit seinem Bruder in Verbindung treten, seine Hand berühren wie damals, als sie klein waren. Vorläufig wagte er es nicht, den kleinen Raum in seinem Inneren aufzusuchen, wo er die Gedanken und Träume der Drachen belauschen konnte. Den Ort, wo er vor langer Zeit zum ersten Mal seinem Bruder begegnet war.
Denn dort erwartete ihn der Drache.
Und vermutlich auch in der Höhle.
»Ich habe es dir doch gesagt«, begehrte Evelina auf. »Ich will nicht in dieser schrecklichen Höhle landen.«
Markus zuckte zusammen. Sie hatte seine Gedanken aufgenommen und ausgesprochen. »Ich habe ihn dort gesehen, diesen Grald. Mir gefiel gar nicht, wie er mich ansah. Bitte kehr um, Markus! Fahr in die andere Richtung. Ich will nicht, dass er mich findet.«
»Ich glaube nicht, dass Grald in der Höhle ist. Wir haben doch diese Explosion gehört.«
»Du weißt es aber nicht sicher«, beharrte Evelina. Ihre Unterlippe zitterte. »Wenn wir nach Süden fahren, können wir ein paar Tage in einem ordentlichen Gasthaus ausruhen.«
»Wir fahren aber nicht nach Süden.«
Markus lächelte ihr zu, um seiner Weigerung die Schärfe zu nehmen, schüttelte aber den Kopf. Der ganze Körper tat ihm weh, und er war zum Umfallen müde. Dennoch ruderte er weiter.
Womit die Auseinandersetzung keinen Schritt weiter gekommen war. Evelina seufzte enttäuscht auf, gerade so laut, dass er es vernehmen musste.
Falls er sie hörte, ließ er sich nichts anmerken. Grollend biss Evelina die Zähne zusammen. Doch sie musste ihre Wut vor ihm verbergen, darum beugte sie sich seitlich über den Bootsrand, um mit einer Hand Wasser zum Trinken zu schöpfen. Dabei bemerkte sie ihr Spiegelbild. Entsetzt fuhr Evelina zurück. Sie sah aus wie eine Vogelscheuche!
Ihre Haare waren zerzaust. Kleine Zweige und Blätter steckten darin. Ihr Gesicht war verschmiert und von Tränenspuren durchzogen. Vom Weinen war ihre Nase angeschwollen, und die Augen waren rot wie die einer Ratte.
»Kein Wunder, dass er nichts mit mir zu tun haben will«, sagte sie sich erschüttert.
Ganz abgesehen von den verfluchten rotbraunen Flecken auf ihrem Mieder und ihrem Rock.
Dennoch konnte sie jetzt nichts an ihrer Erscheinung verändern. Sobald sie Halt machten, würde sie ein Bad nehmen (und ihn dabei nur ganz gesittet provozieren) und die grässlichen Flecken aus Hemd und Rock scheuern.
Dann wären ihre Kleider tropfnass. Sie konnte sie nicht wieder überstreifen, sonst würde sie sich den Tod holen. Also konnten sie und Markus wohl kaum weiterfahren.
Schließlich hätte sie absolut nichts zum Anziehen.
2
Nem stand bauchtief im Wasser und sah dem Boot nach, das mit Bellonas Leib flussabwärts trieb. Als er sich umdrehte, um zum Ufer zurückzuwaten,
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