Das verdrehte Leben der Amélie
sagt immer »das Haus« wenn sie von der Schule spricht. Ich vermute, weil sie hier wohnt.
Dann hat sie uns das Skelett vorgestellt, das auf ihrem Schreibtisch thront und Oskar heißt. »Oskörper«, hat sie gesagt und wieder gelacht und die Hand vor den Mund gelegt. Sie fand ihr Wortspiel megalustig. Ich persönlich finde Schwester Rose selbst viel lustiger als ihre Witze.
9:22
Während sie redet, denke ich über meine menschliche Existenz nach. Wenn ich mich so anders fühle als der Rest und auch die Biostunden komisch finde, dann liegt das vielleicht daran, dass ich einfach nichts mit der »irdischen« Anatomie zu tun habe.
Was, wenn meine Mein-Vater-ist-ein-Außerirdischer-Theorie doch nicht so verrückt ist?
9:23
Nee! Das ist Quatsch!
9:24
Wenn mein Vater ein Außerirdischer ist, dann bin ich,Amélie Laflamme, vielleicht auch eine Außerirdische, und eines Tages kommt er und holt mich (total unwahrscheinlich).
9:25
»Die Galle ist gelb! Richtig schön gelb!«, verkündet Schwester Rose, während ich über meine Theorie nachsinne.
Vielleicht bin ich eine Außerirdische, die auf einer intergalaktischen Reise nach einer Raumschiffpanne auf der Erde vergessen wurde!
9:26
Ich hoffe, die Außerirdischen sehen so gut aus wie Max aus der Serie Roswell.
9:27
Oh wow! Es wäre echt cool, wenn mein Vater mich abholt und ich auf seinem Planeten einen Typen wie Max treffe!
9:28
Wie war noch mal der Name des Schauspielers? Ach ja, Jason Behr?
9:29
Zumindest ist es nicht Brendan Fehr ... Ist doch komisch, dass in einer Serie zwei Schauspieler spielen, deren Namen ganz ähnlich klingen und dabei so ungewöhnlichsind. Hmm ... das ist mir vorher nie aufgefallen, aber ich finde das ziemlich verdächtig.
Wenn ich nur mit Kat darüber reden könne!
9:30
»Schluss für heute. Ab mit euch!«, sagt Schwester Rose, als es zur Pause läutet. »Du bleibst hier, Ariane!«, fügt sie hinzu und sieht mich an.
Ich: »Ich?«
SR: »Ja.«
Ich: »Ich heiße Amélie.«
SR: »Ach so? Entschuldige ...« (Sie schaut auf ihrer Namensliste nach, vielleicht hat sie Angst, ich wolle sie veräppeln.) »Das Schuljahr hat ja gerade erst angefangen. Bis Weihnachten kenne ich alle eure Namen auswendig!«
Sie rückt Oskar auf ihrem Schreibtisch zurecht und sieht mich nicht an. Ich trete von einem Fuß auf den anderen und warte, dass sie sagt, was sie sagen will.
Ich: »Ähh ... Schwester Rose, was wollten Sie mit mir besprechen?«
SR: »Ach ja! Mein Unterricht interessiert dich wohl nicht?«
Ich: »Doch, schon ...«
SR: »Du hörst aber nicht zu.«
Ich »Das liegt daran, dass ... ich nachgedacht habe.«
SR: »Worüber?«
Ich »Über ... verschiedene Sachen ...«
SR: »Sachen, die mit Biologie zu tun haben?«
Ich: »Hmm ... schwer zu sagen.«
SR: »Was man versteht, erklärt man leicht!« (Dabei hebt sie den Zeigefinger und freut sich offensichtlich, ihr Sprichwort zitieren zu können.)
Ich: »Glauben Sie an Außerirdische?«
SR: »Solange etwas nicht wissenschaftlich bewiesen wurde, kann man nicht behaupten, dass es existiert.«
Ich: »Komisch, dass gerade Sie das sagen ...«
SR: »Ach ja, warum?«
Ich: »Na ja, Sie sind eine Nonne ... sind Sie nicht, äh, sozusagen ... mit Gott verheiratet?«
SR: »Ja ...«
Ich: »Und welches wissenschaftliche Experiment beweist seine Existenz?«
Schwester Rose dreht sich überrascht zu mir um und betrachtet mich über den Rand ihrer Brille.
SR: »Ariane ...«
Ich: »Amélie.«
SR: »Das ist in der Tat eine Dichotomie.«
Ich: »Eine Dicho ... was?«
SR: »Ein Widerspruch.«
Ich: »Ah ...«
SR: »Es gibt einen Unterschied zwischen Glaube und Wissenschaft. Das ist eine Debatte, die seit Menschengedenken geführt wird. Aber warum fragst du mich nach Außerirdischen?«
Ich könnte alles Mögliche antworten, zum Beispiel: »Ich glaube, ich bin auf dem Planeten Erde nicht zu Hause«, oder: »Ich würde gerne von einem Raumschiff abgeholt werden, das wäre echt cool!«, oder auch: »Wenn Elvisauf einer einsamen Insel lebt, dann lebt mein Vater auf einem anderen Stern.« Aber ich ziehe es vor, gar nichts zu sagen. Außerdem habe ich nur noch wenige Minuten, um zu meinem nächsten Kurs zu kommen (Mathe), der am anderen Ende des Gebäudes stattfindet.
SR: »Wusstest du, dass es große Wissenschaftler gibt, die große Gläubige geworden sind?«
Ich: »Nein ...«
SR: »Je mehr du über das menschliche Wesen erfährst, desto mehr Fragen stellst du dir. Die Wissenschaftler, denen das
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