Das verdrehte Leben der Amélie
verwildert und so was wie Lifestyle gab’s noch nicht.“ Sylt ist die Insel seiner Kindheit, wo er zusammen mit seiner Schwester Christina die Ferien regelmäßig bei seiner Lieblingstante Hedi, meiner Ende Mai verstorbenen Großtante, verbrachte. In ihrem Häuschen in List am nördlichen Ende von Sylt, wo die Insel sich zum Haken krümmt. Später, als ich klein war, hat er keine Zeit mehr gehabt für Besuche auf Sylt. Ich war bisher nur zweimal da gewesen, und auch das nur übers Wochenende, von denen eines total nass und stürmisch war. Und natürlich bei der Trauerfeier für Tante Hedi, obwohl ich sie nicht wirklich gut gekannt hatte.
Dass Ferien auf Sylt gleichbedeutend mit großer Freiheit und draußen leben sein sollten, wie Martin mir weismachte, konnte ich, ehrlich gesagt, nicht nachvollziehen. Nachvollziehen kann ich bloß, dass von Sylt wahrscheinlich seine Vorliebe für die Wüste kommt, die sich von diesem nordfriesischen Sandhaufen nur durch den Mangel an Möwen und an Regentropfen unterscheidet. Und durch die Größe natürlich.
Heutzutage ist auf Sylt gerade mal die Luft gratis, und auch das nur hinter den Dünen. Der Sandstrand mitsamt der gesunden jodhaltigen Luft darüber kostet schon Eintritt, auch bei schlechtem Wetter. Kurtaxe nennen sie das, und sie beinhaltet, dass alles verboten ist, was Spaß macht. Durch die Dünen laufen, Sandburgen bauen, mit dem Hund spazieren gehen, wo man will ... Inklusive sind nur der Wind und das Wetter.
„Ist doch durchaus berechtigt“, findet Martin. „Wer beschwert sich denn sonst täglich über ‚diese Luft hier mit Güllefaktor 1000‘? Außerdem kostet Inselschutz eben Geld.“
Komisch nur, dass eine Insel weiter, auf Rømø, dieser sogenannte Inselschutz keine müde Öre kostet, geschweige denn einen Cent. Aber Rømø ist eben dänisch, und in Dänemark gibt es so viele Inseln, dass man nicht jede einzelne davon mit Vorschriften einzäunen muss. Und sie gehen dort auch nicht durch Sandburgen-Bauen kaputt oder durch Knutschen in den Dünen. Rømø ist ja auch nur eine bessere Sandbank, sagt Martin dazu.
„Ich hab aber keinen Bock auf Spaziergänge in der Matsche in gelbem Ölzeug und mit Gummistiefeln an den Füßen. Außerdem ringeln sich dort meine Haare wie die von Whoopi Goldberg. Kann ich nicht zu Hause bleiben?“
„Die Matsche nennt man Watt, wie du weißt. Allein zu Hause bleiben kommt nicht infrage und deine langen braunen Locken sind so wunderschön wie die von deiner Mutter. Auch, wenn’s regnet, Helena.“
HELENA. Wenn Martin mich Helena nennt, wird’s ernst. Das Helena hat nämlich er zu meinem Namen beigesteuert. Nach dieser griechischen Miss Universum, wegen der sich vor zweieinhalbtausend Jahren oder so zwei Kerle derartig in die Haare kriegten, dass sie den Trojanischen Krieg anzettelten, in den dann prompt halb Griechenland verwickelt war. Ob es meinetwegen auch mal zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt? Wäre jedenfalls ausgesprochen schmeichelhaft, obwohl mich die Story damals eher an meinen Vater und meine Mutter erinnerte. Wie das alles laufen würde, konnte ich da noch nicht wissen.
„Ich bin doch gar nicht allein. Ich hab doch Jasper“, versuchte ich es noch mal.
„Jasper ist noch nicht mal in der Lage, auf sich selbst aufzupassen.“
„Aber er hasst Sand. Und ich hasse es, ihm den dreimal täglich aus den Zehen und aus seinen Falten zu pulen. Er hat nämlich keine Gummistiefel.“
„Das wäre mir neu“, sagte Martin, „dass Jasper Sand hasst. Gestern habe ich ihn auf der Wiese von Bauer Burmester gesehen, wo er wie ein Verrückter in einem Kaninchenloch gebuddelt hat. Aber für das Kaninchen war er natürlich zu blöd. Mit eingekniffenem Schwanz ist er wieder abgezogen.“
„Jasper ist nicht blöd.“ In einem Anfall von Loyalität zu der vierbeinigen Hinterlassenschaft meiner Mutter war ich entschlossen, meinen alten Freund bis aufs Messer zu verteidigen. Jasper war eine Seele von Hund, ein Boxer und kein bisschen stylish, so wie diese geklonten blonden Labradors mitsamt ihren geklonten blond gesträhnten Frauchen, die im Dutzend am Elbstrand herumliefen. Britta hatte sich für ihn entschieden, weil keine andere Sorte Hund sich so freuen kann wie ein Boxer. Auch wenn er dabei guckt, als wolle er einen gleich auffressen. Jasper ist lammfromm, trotz Kampfhundvisage, und dabei kurzatmig wie ein alter Mann. Ein bisschen trottelig ist er ehrlich gesagt auch. „Und“, trat ich nach, „im Gegensatz zu
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