Das verdrehte Leben der Amélie
gesagt hatte. Ich erinnere mich an gar nichts. Außer daran, dass mein Herz in tausend Stücke zerbrochen ist.
Damals konnte ich nicht wirklich verstehen, was passiert war. Ich war noch nie mit dem Tod in Berührung gekommen und wusste nicht, was das bedeutete. Mein Großvater Laflamme war gestorben, bevor ich auf die Welt kam. Ich hatte also immer gewusst, dass es ihn einmal gegeben hatte, und ich hätte ihn gerne gekannt, aber ich habe ihn nicht verloren.
Ich fragte meine Mutter, wo mein Vater jetzt sei. Darauf sagte meine Mutter – und damit ist sie vermutlich die einzige Mutter der Welt, die ihrer neunjährigen Tochterso etwas sagt –, sie wisse es nicht. Sie fügte hinzu, es gebe verschiedene Vorstellungen, aber keine einzige könne wirklich bewiesen werden.
Niemand könne sagen, was der Tod eigentlich sei und sie selbst wisse nicht, woran sie glauben solle: An ein Leben nach dem Tod? An Wiedergeburt? Blödsinn !
Als meine Mutter das sagte, kamen ihr die Tränen und ich bekam Nasenbluten. Nachdem sie mir den Kopf in den Nacken gelegt hatte (was keine gute Idee war, denn, wie ich in der siebten Klasse gelernt habe, muss man den Kopf gerade halten, aber meine Mutter hat anscheinend nicht den gleichen Erste-Hilfe-Kurs gemacht wie ich), erzählte sie mir vom Himmel. Dabei erklärte sie mir allerdings im selben Atemzug, dass mein Vater und sie nicht an den Himmel glaubten.
Danach kamen die Beerdigung, die Beileidskarten, das Testament usw.
Und danach wurde meine Mutter quasi zum Zombie.
Ihre Mutter, Großmutter Charbonneau, hat eine Weile bei uns gewohnt. An alles, was in dieser Zeit passiert ist, erinnere ich mich nur noch verschwommen.
Am Anfang war ich sehr traurig, aber mit der Zeit habe ich mich damit abgefunden. Und verstanden, dass mein Vater nie mehr zurückkommen wird. Niemals. Meine Mutter hat das nicht verstanden oder nicht verstehen wollen. Es ist immer schwierig gewesen, mit ihr über meinen Vater zu reden. Manchmal habe ich den Eindruck, es geht ihr besser. Aber dann wird sie bei der kleinsten Bemerkung über ihn ganz rot am Hals undTränen schießen ihr in die Augen. Wenn ihr Hals rot wird, muss ich sofort etwas sagen, damit sie nicht in Tränen ausbricht. Ich habe da so meine Tricks. Meistens versuche ich, sie zum Lachen zu bringen. Und dann wechseln wir zu meiner Erleichterung das Thema.
Am schwierigsten finde ich, dass ich, wenn ich an meinen Vater denke, nicht weiß, wo er ist. Es ist, als wäre er einfach so verschwunden – puff!
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20:03
Ich sehe mir immer noch die Sterne an und stelle mir vor, mein Vater wäre nicht gestorben, sondern ein Außerirdischer, der auf seinen Planeten zurückgekehrt ist (echt cool!!!).
20:04
Was denn? Das ist auch nicht seltsamer als die Leute, die glauben, dass Elvis nicht tot ist, sondern auf einer einsamen Insel lebt!
20:22
Das Schweigen meiner Mutter beunruhigt mich. Als ich die Röte an ihrem Hals bemerke, stelle ich ihr schnell meine Theorie vor, dass mein Vater ein Außerirdischer ist und auf einem anderen Planeten lebt. Meine Mutterstarrt mich an und erstickt dann fast vor Lachen. Darüber bin ich echt froh! Das ist das erste Mal, dass sie in Zusammenhang mit diesem, ähm, tragischen Ereignis gelacht hat.
Dienstag, 27. September
I ch liebe unsere Biostunden! Nicht, weil ich den Stoff so spannend finde, sondern weil ich Schwester Rose so mag, meine Lehrerin. Für eine Nonne ist sie echt ziemlich cool. Sie hat graue Haare, die zu einem Knoten hochgesteckt sind, eine kleine runde Brille und abgefahrene Klamotten. Unter ihrem weißen Laborkittel trägt sie einen tief ausgeschnittenen Pullover, jede Menge Ketten, einen Rock und High Heels. Keine andere Nonne zieht sich so an! Ich finde sie rebellisch.
Gerade spricht sie über die Anatomie des menschlichen Körpers. Ein paar Mädchen kichern, weil sie peinliche Wörter sagt. Uuuaaaaaaaah!!! Die will ich auf keinen Fall wiederholen!
Schwester Rose ist echt die lustigste Lehrerin der Welt!
In unserer ersten Stunde hat sie gesagt: »Guten Tag, ich heiße Rrrrose – hütet euch vor meinen Dornen !«
Immer wenn sie einen Witz macht, lacht sie ein bisschen und legt dabei ihre Hand vor den Mund. Total süß! »Herzlich willkommen im Biolabor, dem schönsten Raum des Hauses! Schaut euch mal um, es gibt sechs Fenster! Nicht eins! Nicht zwei! Nicht drei! Nicht vier! Nicht fünf! Sechs! Habe ich ›sechs‹ gesagt? Ja, ich habe ›sechs‹ gesagt!«
Schwester Rose
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