Das verflixte 4. Schuljahr
noch mehr für unsere Noten. Durch Tests und Übergangszeugnisse, die entscheidend sind für die weitere schulische Karriere eines Kindes, wird bereits in den Anfangsjahren ein ungeheurer Druck auf die Heranwachsenden ausgeübt, der in den wenigsten Fällen dazu führt, dass Kinder auch heute noch gerne in die Schule gehen.
Schon für Grundschülerinnen und Grundschüler gilt es, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Leistung zu erbringen, die sie vorher nur grob einschätzen können. Nach der Probe oder Klassenarbeit ist diese Leistung uninteressant und nichts mehr wert, weil dann schon das Thema der neuen Prüfung gepaukt wird. »Nach dem Spiel ist vor dem Spiel«, heißt es beim Fußball. Die Freude am Lernen um des Themas willen, die alle Kinder besitzen (jedes Kind will laufen lernen, jedes Kind will seine Welt entdecken, jedes Kind will sich verständigen können), bleibt dabei auf der Strecke. Kinder werden zu Bulimie-Lernern: Sie pauken, pauken, pauken und spucken nachher alles wieder aus.
Während auch zu Beginn der Grundschulzeit Kinder meist noch Spaß haben, neue Dinge zu lernen und ihre Welt zu entdecken, lernen sie, sobald Prüfungen ins Spiel kommen, ausschließlich dafür. Das, worauf es keine Noten gibt, wird plötzlich uninteressant. Lehrerinnen und Lehrer hören dann häufig Fragen wie: »Bekomme ich darauf eine Note?« Wird die Frage verneint, verliert die Aufgabe an Bedeutung.
Kinder identifizieren sich mit der Note, die sie erhalten. Eine Vier oder schlechtere Note mindert das Selbstwertgefühl; sind es gar mehrere schlechtere Noten, zweifeln Kinder an sich selbst und denken: »Ich kann doch sowieso nichts!« Selbst wenn es in einem Fach besser läuft, überwiegen häufig die schlechten Zensuren in den Köpfen der Heranwachsenden. Dies resultiert nicht selten in einer Angst vor der Schule und einem Blackout bei Klassenarbeiten und Proben.
Noten verhindern also das organische Lernen. Im wahren Leben lernen alle Kinder (oder zumindest die allermeisten) laufen, aber nicht alle tun dies zum selben Zeitpunkt. In der Schule wird aber erwartet, dass alle Kinder zum selben Zeitpunkt eine Sache gelernt und diese abrufbereit haben.
Laut einer Umfrage der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2010 hat bereits jeder zweite Grundschüler eine Therapie hinter sich, um die Fehler von Schulen und Eltern auszugleichen. Und so kümmert sich eine zunehmende Zahl von Therapeuten um Vernachlässigung, übertriebenen Ehrgeiz und überforderte Institutionen. Zum ungeheuren Notendruck und der Angst vor Prüfungen kommen nämlich weitere Verpflichtungen der Kleinen hinzu, die ihren Terminplan manchmal voller machen als den eines Börsenmaklers: vormittags Schule, dann Hort. Montags außerdem noch Fußball, dienstags Tennis, donnerstags Klavierstunde. Und dazwischen zweimal die Woche Ergotherapie, damit das Kind in der Schule nicht so häufig abgelenkt ist. So werden bereits siebenjährige Schüler zu Patienten.
Schuld daran ist unsere Kultur des »Höher, Schneller, Weiter«. Vor allem schneller: Frühere Einschulung, der Übertritt auf die weiterführende Schule und das verkürzte Gymnasium (G8) sorgen für eine Arbeitsmoral, die ausschließlich nach dem Nutzen fragt. Schülerinnen und Schüler werden zu Maschinen, die funktionieren müssen.
Die meisten Eltern streben für ihre Kinder eine Gymnasiallaufbahn an. Schließlich gilt als sicher, dass man einen möglichst guten Schulabschluss braucht, um überhaupt auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen zu können. Diesen erreichen immer weniger Kinder von allein; wie ein Kapitel in diesem Buch belegen wird, bekommen etwa 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler Nachhilfe. Auch hierdurch steigen der Druck und die Belastung für die Kinder.
Das Paradoxe an der Sache: Obwohl die Belastungen für die Kinder zugenommen haben, können sie heute schlechter mit Druck und Konflikten umgehen als frühere Generationen. Und dies, obwohl zum Beispiel in Bayern der Modellversuch »Flexible Grundschule« durchaus positiv ausgefallen ist und nun flächendeckend ausgeweitet werden soll. Um den Druck in den ersten Grundschuljahren etwas herauszunehmen, dürfen sich Kinder an solch flexiblen Schulen für die ersten beiden Grundschuljahre zwischen einem und drei Jahren Zeit nehmen. Diejenigen, denen alles »zufliegt« und die bereits genügend Vorerfahrungen haben, können problemlos eine Klasse »überspringen«. Die Kinder, denen das Lernen noch recht schwerfällt, dürfen sich ein
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