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Das Verheissene Land

Titel: Das Verheissene Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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sicher.
    Als die Speerspitze ihn in die Seite piekste, verkroch er sich noch weiter unter die Decke. So brauchte Dielan ihn nun wirklich nicht zu wecken.
    »Dielan«, murmelte er. »Hör auf. Ich bin wach.«
    Er drehte sich auf den Rücken und merkte, dass Dielan neben ihm lag. Da stach ihn wieder etwas in die Seite.
    Bran war mit einem Satz auf den Beinen und starrte auf die Speerspitzen, die auf ihn gerichtet waren. Er sah die untersetzten Gestalten, die ihn umringt hatten. Mit den dicken Speerschäften in ihren kleinen Händen sahen sie wie lebende Moorbülten aus. Die Flintspitzen waren eine Handbreit von seinem Magen entfernt.
    Er stieß Dielan mit dem Fuß an. Sein Bruder fluchte hustend. Dann verstummte er schlagartig und richtete sich mit dem Rücken zur Felswand auf.
    Zwei der Gestalten wandten sich von Bran ab und richteten ihre Speere auf Dielan. Ein Dritter schlug mit seiner Speerspitze gegen Brans Speer. Bran zögerte. Der weiße Bart, der unter der schmutzigen Hutkrempe hervorragte, kam ihm irgendwie bekannt vor. Zwischen den widerborstigen Zotteln hingen zwei dicke Zöpfe. Er hatte dieses Wesen schon einmal gesehen, vor vielen Wintern.
    »Lass den Speer fallen«, flüsterte Dielan. »Sonst töten sie uns.«
    Bran tat, was sein Bruder sagte. Da schob der Weißbärtige den Hut in den Nacken. Sein Gesicht war zerfurcht wie ein alter Baumstumpf und eingerahmt von einem Gestrüpp aus weißen Haaren. Die Haare waren geflochten und hingen gemeinsam mit dem Bart weit über seinen Bauch.
    »Hässlinge«, sagte er. »Jäger.«
    Darauf senkten die anderen ihre Speere. Sie schoben ebenfalls ihre Hüte zurück und musterten Bran und Dielan mit ihren schwarzen Augen. Ihre grauen Bärte reichten ihnen allesamt bis über die Brust. Die drei waren nicht so runzelig wie der Weißbärtige, aber die Furchen ihrer Haut zeugten von langen Wanderungen.
    »Feuer!« Er richtete seinen Speer drohend auf Bran. »Wieso?«
    Dielan räusperte sich. »Weil wir unserem Volk ein Zeichen geben wollten. Sie warten…«
    »Volk?« Der Weißbärtige sperrte die Augen auf. »Welches Volk?«
    Dielan sah Bran an, worauf der kleinwüchsige Mann sich wieder ihm zuwandte.
    »Volk.« Der Weißbärtige rümpfte die Nase. »Ihr gebt eurem Volk Zeichen. Wieso?«
    Bran antwortete nicht. Plötzlich erinnerte er sich wieder. Er erinnerte sich, woher er diese Wesen kannte. Er erinnerte sich an das runzelige Gesicht unter dem weißen Bart und an die raue Hand, die ihm über die Wange gestrichen hatte. Es waren jene Geschöpfe, von denen der Vogelmann sich damals nach der Schlacht gegen die Kretter verabschiedet hatte. Bran war damals noch ein Kind gewesen, aber er erinnerte sich. Er war die Treppe zu den Kalanen hinaufgerannt, und dort, von dem Aussichtsloch in der Felswand, hatte er die Waldgeister über die schneebedeckte Ebene davonmarschieren sehen.
    Der Weißbärtige setzte das Speerende auf den Boden. Er ging ganz nah an Bran heran, schaute zu ihm hoch und schüttelte mit einem verwunderten Ausdruck in seinem alten Gesicht den Kopf. Bran bückte sich, und der Alte berührte seine Stirn. Er strich ihm an der Schläfe entlang und lächelte, als er die Hand auf Brans Bart legte. Zuletzt strich er mit den Fingern über die Narbe in seinem Nacken, über das halb abgerissene Ohr und über die Narbe über seiner Kehle.
    »Du bist Febals Sohn«, sagte er leise. »Ich erkenne dich an deinen Augen wieder.«
    Bran schluckte. Der Weißhaarige nahm Brans Kopf zwischen die Hände und drückte ihn an seine Brust. »Ich sehe, dass die Welt hart mit dir umgesprungen ist, Junge.«
    Bran fing an zu weinen. Er wusste nicht, warum, aber aller Kummer quoll mit einem Mal aus ihm heraus wie ein Bach zur Schneeschmelze. Er hielt Noj in seinen Armen und spürte das letzte bisschen Leben aus dem alten Körper herausfließen. Er sah die verstümmelte Gestalt seiner Mutter im Schnee, er sah Viani im Regen am Grab ihres Mannes. Er hörte die Todesschreie seiner Kampfesbrüder, und all seinen Kummer, all seine Angst vor dem, was vor ihm lag, weinte er in Lokes struppigen Bart. Denn es war niemand anders als Loke, der ihn im Arm hielt, derselbe Loke, der damals mit dem Vogelmann auf die Felsenburg gekommen war.
    »So. Jetzt setz dich wieder auf.« Loke wischte Bran mit seinen Zöpfen die Tränen unter den Augen weg. »Du bist ein erwachsener Mann geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Es ziemt sich nicht für einen Mann zu weinen. Jedenfalls nicht öfter als einmal

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