Das Verheissene Land
war nichts zu hören.
Als die Nacht die Birken wie ein dicker Umhang einhüllte, legte Bran mehr Holz ins Feuer. Dielan hatte die Hände in die Achselhöhlen geschoben und zitterte, die gebrochene Rippe schwächte ihn. Der Bogen lag auf seinen Knien und der Pfeilköcher stand neben ihm, obgleich beide wussten, dass ihnen keine Zeit mehr zum Schießen bliebe, wenn die roten Dämonen sich vom Rand der Kluft auf sie stürzten.
Bran reichte Dielan seinen Speer und lehnte seinen eigenen so gegen die Felswand, dass er ihn von seinem Platz aus ergreifen konnte.
»Du weißt ebenso gut wie ich, dass wir uns heute Nacht nicht wach halten können.« Dielan zog die Beine an. »Wir sind zu erschöpft. Wir müssen uns ausruhen für den morgigen Fußmarsch.«
»Dann müssen wir eben versuchen, nur leicht zu schlafen.« Bran setzte sich dicht neben seinen Bruder, um die Wärme mit ihm zu teilen. »Oder wir reden, wie früher, wenn wir Wolfswache hatten.«
Dielan lächelte. »Das liegt viele Winter zurück. Damals waren wir noch Kinder. Jetzt sind wir erschöpfte Väter.«
Bran schob mit dem Fuß einen halb verkohlten Ast weiter ins Feuer. Es war seltsam, Dielan so reden zu hören. Aber er hatte Recht. Sie waren keine Kinder mehr. Sie hatten jetzt beide eine Frau und einen Sohn.
»Du bist so still, Bruder.« Dielan blickte mit schläfrigen Augen in die Flammen. »Hast du dich noch nicht an den Gedanken gewöhnt?«
Bran fasste sich an den Kopf, in dem es wieder zu schwirren begann. Aber diesmal waren es nicht die Krallen, sondern die Unruhe angesichts schwieriger Gedanken. Er spürte die Sehnsucht nach Tir und verstand nicht, weshalb er für seinen Sohn nicht das gleiche Gefühl hegte. Ulv war noch immer wie ein Fremder für ihn, und er wusste nicht, ob das normal war.
»Es braucht seine Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen«, sagte Dielan gähnend. »Ein paar Monde vielleicht, oder einen Winter. Du hast dein gesamtes bisheriges Leben nur mit dir selbst verbracht, und plötzlich ist da ein kleiner, schutzloser Schreihals, den du beschützen musst.«
»Tir ist so eng mit ihm verbunden.« Brans Blick war auf die Glut geheftet. »Sie scheint alles zu verstehen, was er von sich gibt, und wenn er bei ihr ist, ist es, als würde sie mich gar nicht mehr bemerken.«
Dielan lachte leise und klopfte seinem Bruder auf die Schulter.
»Er kommt mir so fremd vor«, sagte Bran. Warum sollte er seinem Bruder nicht erzählen, welche Gedanken ihn in letzter Zeit geplagt hatten? »Ich meine… Sein Aussehen ist mir vertraut, aber trotzdem kenne ich ihn nicht. Ich hätte längst mit Tir darüber reden sollen, aber ich habe Angst, sie könnte glauben, dass ich den Jungen nicht liebe.«
»Es ist alles, wie es sein soll.« Dielan zog den Wollumhang um den Hals. »Es wird besser, wenn er größer wird. Für Tir bedeutet das Kind jetzt alles. Sie sieht dich nicht. Aber auch das wird sich mit der Zeit legen.«
Bran dachte über die Worte seines Bruders nach. Er verstand nicht, warum es so war, aber wenn Dielan sagte, dass es in Ordnung war, verließ er sich darauf. Sein Bruder war klüger als er, so war es schon immer gewesen. Bran erinnerte sich an die Abende vor dem Kamin in der Hütte, wenn ihr Vater ihnen etwas über Zahlen beigebracht hatte. Er hatte Tannenzapfen vor sie hingelegt und sie aufgefordert, sie zu zählen. Wenn Bran es endlich geschafft hatte, nahm er ein paar weg und forderte ihn auf, sie erneut zu zählen. Dielan hatte immer die richtige Antwort gewusst. Bran erinnerte sich an die Schläge vor die Stirn; wer falsch antwortete, bekam die flache Hand des Vaters zu spüren. »Du hast keinen Verstand, Bran.« Vaters Augen über dem schwarzen Bart hatten ihn streng gemustert. »Zum Glück bist du kräftig, denn du wirst zu nichts anderem taugen als zu einem Jäger.«
»Es gibt vieles, was ich nicht verstehe.« Bran sah seinen Bruder an. Dielan hatte die Augen geschlossen und antwortete nur noch mit einem Murmeln. Bran lächelte und breitete ein Stück Fell über seine Knie. Sollte Dielan sich ruhig ausruhen. Er würde wach bleiben und aufpassen. So war es immer gewesen. Wölfe, Vokker, rote Dämonen; irgendwelche Wesen lauerten immer außerhalb des Feuerscheins. Aber er war wach und wachte über den schlafenden Bruder.
Bran ließ seinen Blick auf den Flammen ruhen. Turvi sagte immer, dass die Flammen zeigten, was ein Mensch sehen wollte. Und so ließ Bran die Feuerzungen Formen und Landschaften malen, wie schon so oft zuvor.
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