Das Verheissene Land
kratzte sich hinterm Ohr. Dann fischte er ein kurzes Flintmesser aus seiner Gürteltasche und begann, den Pfeilschaft direkt über ihrer Haut abzusägen. Tir zuckte zusammen, als er ihn abbrach. Loke untersuchte den halben Pfeil, fuhr mit den Fingern über die Steuerfedern und warf ihn anschließend ins Feuer. Dann stellte er sich vor sie.
»Jetzt müsst ihr sie festhalten.« Er nahm den Pfeil unmittelbar unter der Spitze in die kleine, kräftige Faust. Die andere Hand legte er an ihre Schulter. Tir stöhnte leise auf. Und dann zog Loke an dem Pfeil. Tir zuckte zusammen. Bran hielt ihre Handgelenke umklammert, weil sie die Arme hochziehen wollte und den Kopf hin und her warf.
Dann war es plötzlich vorbei. Loke hielt den blutverschmierten Pfeil hoch. »Sie hat Glück«, sagte er. »Ich hab ihn bis auf den letzten Splitter herausbekommen. Drückt jetzt die Wunden zusammen, damit das Blut herauskommt.«
Bran tat, was er sagte. Halb geronnenes Blut quoll über ihre Brust und ihren Rücken. Tir übergab sich. Es kam noch immer Salzwasser.
Loke zog jetzt das Messer aus der Glut, und Bran beugte sich über Tir. Linvi wollte das Blut abwischen, aber Loke schob sie beiseite.
Die Messerklinge zischte. Tir wand sich. Aber Loke beugte sich über sie. Und wieder zuckte Tir zusammen, als das Messer die Haut berührte. Der Gestank von verbranntem Fleisch breitete sich im Zelt aus.
»Es ist vollbracht.« Loke trat zurück. »Ich werde jetzt nach draußen gehen. Bile wird Blätter bringen, die die bösen Wundgeister abhalten sollen.«
Damit verließ sie der Waldgeist. Er schlug das Fell vor der Zeltöffnung zur Seite, und Bran hörte, wie sich seine Schritte über das trockene Gras entfernten.
Bile kam mit Blättern, Bran legte sie auf die Brandwunden, kochte Leinentücher aus und wickelte sie darum. Kurz darauf konnte Bran Tir auf den Rücken legen. Als er sich neben sie setzte, sah sie ihn unter ihren schweren Augenlidern an. Sie streckte den Arm nach ihm aus, und er legte ihn auf seinen Schoß.
Tir schlief bald ein, und Bran blieb neben ihr sitzen. Nach einer Weile kam Linvi mit Ulv auf dem Arm herein. Als sie den Jungen in ihre Armbeuge legte, drehte Tir sich auf die Seite und zog den Kleinen an sich.
Bran wachte an ihrem Lager, bis die Stimmen vor dem Zelt nach und nach verstummten. Er schaute durch den Spalt, der sich an der Stelle auftat, wo die Ruder sich kreuzten. Der Himmel war dunkel. Das Feuer war heruntergebrannt, und es wurde langsam kalt. Er legte mehrere Tangbündel auf die Feuerstelle und blies die Glut an. Tir und das Kind hatten es warm unter dem Fell. Und als die Flammen um den Trockentang leckten, kroch er aus dem Zelt.
Das Felsenvolk hatte die Zelte auf der Wiese am Fuß des Hügels aufgeschlagen. Der Wind hatte aufgefrischt und zerrte an den Fellen und Decken, die über die Ruder gespannt waren. Bran stieg über die schwarzen Steine und schaute aufs Meer hinaus. Die Wellen rollten weit auf den Strand, zogen sich zurück, um gleich darauf wieder zwischen die glatt geschliffenen Steine zu spülen. Die Langschiffe schoben sich langsam vor und zurück. Die Buge waren stellenweise abgesplittert, weil die Männer die Schiffe allzu hart auf den Strand gerudert hatten. Aber das machte nichts, dachte er. Die Schiffe hatten ihren Dienst getan. Sein Volk würde sie nicht länger brauchen. Und niemand außer ihm und Nangor würde sie vermissen.
Bran sprang auf einen Stein, als die Wellen auf den Strand spülten. Die Sonne war im Meer versunken, aber die Wolken dort draußen schimmerten noch immer sanft golden. Die Wellen glitzerten im letzten Abendlicht. Das Meer war so schön, und er konnte nicht verstehen, dass eben diese Wellen, die jetzt so beruhigend auf ihn wirkten, versucht hatten, ihm Tir wegzunehmen. Er legte die Hand über die Augen. Die Eisberge lagen verstreut im Wasser wie Blätter auf einem Waldsee. Manche waren flach und lang gestreckt wie der Rumpf eines Langschiffes, andere türmten sich vor dem Horizont auf. Es waren viele. Er richtete den Blick nach Norden. Etwa einen Pfeilschuss vom Lager entfernt war ein Höhenzug, aber er konnte nicht sehen, was dahinter lag. Eine halbe Tagesreise über das Meer in Richtung Norden konnte er ebenfalls Land erkennen, das einen Bogen nach Westen beschrieb. Jetzt am Abend sah es grau und verschwommen aus. Und hinter den Ebenen ragten die Berge wie dunkle Schatten auf. Die Gebirgskette erstreckte sich so weit nach Westen, bis alles Land hinter dem
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