Das Verheissene Land
bis Ulv alt genug ist. Also habe ich mich entschlossen, Dielan in das Geheimnis der Zeichen einzuweihen, damit er es an deinen Sohn weitergeben kann, wenn die Zeit reif dafür ist.«
Bran fasste Turvi an den Schultern und drückte ihn an sich. Er wollte dem Einbeinigen danken, dass er Ulv lehren wollte, worauf er selbst sich nie verstanden hatte, aber Turvi schob die Hände schnaubend beiseite.
»Noch sind wir nicht so weit. Ich bin schwach und alt, und es kann noch viel passieren, ehe wir unsere Felle im Tal deiner Träume ausrollen. Und außerdem bin ich nicht gekommen, um das mit dir zu besprechen, Bran.« Turvi streckte den Arm zum Meer aus. »Beravs Land«, sagte er. »Wenn wir von hier aufbrechen, werde ich es zum letzten Mal gesehen haben.«
Bran schüttelte den Kopf. »Wir können jederzeit wieder hier runtergehen, Turvi. Im Sommer, wenn…«
»Im Sommer will ich mit Eyna unter einem Baum sitzen und dich mit deinem Sohn spielen sehen. Ich will nicht mehr wandern. Was ich gesehen habe, reicht für viele Menschenleben. Und ich möchte in Ruhe sterben. Darum bitte ich dich, deine Augen auf Beravs Land zu richten und dich zu erinnern.«
Bran tat, was Turvi sagte. Er sah die Eisberge langsam gen Norden treiben, er sah rastlose Wellen und die Fächer, die der Wind aufs Wasser malte. Das war das Meer, Beravs Land. Manannans Reich. Und er war nun an dessen Ende angelangt.
»Es kommt mir wie ein ganzes Menschenleben vor«, seufzte Turvi. »Dabei ist es nicht mehr als ein gutes Jahr her, seit wir dort im Osten vor unserem Lager am Strand gestanden haben, im Norden des Blutsundes.« Der Einbeinige lachte. »Hör mich an! Ich weiß noch nicht einmal, in welche Himmelsrichtung ich mich wenden muss, um zu dem Land zurückzublicken, das einmal unsere Heimat war. Aber ich glaube, dass es im Osten ist, weit hinter dem Grashügel. So ist es, Bran. Ich bin ein alter Mann, aber ich habe alles auf Pergamente geschrieben, alles…«
Der Einbeinige begann vor sich hin zu murmeln. Als Bran ihn am Arm fasste, zuckte er zusammen. Er starrte Bran an, blinzelte und schüttelte den Kopf. Dann holte er tief Luft.
»Ja«, sagte er. »Ich weiß es. Mein Verstand wird spröde. Er kommt und geht, und manchmal kommen mir die Erinnerungen mindestens genauso wirklich vor wie die Wirklichkeit selbst. Aber jetzt erinnere ich mich, Bran. Ich erinnere mich an den Morgen nach Nojs Tod. Ich stand am Strand, und du kamst zu mir. Und wir haben geredet.«
»Du hast mir von den Göttern erzählt.« Bran verschränkte die Arme vor der Brust. »Du sagtest, dass wir Beravs Volk sein würden.«
»Und Beravs Volk sind wir gewesen. Wir sind durch sein Land aus Wellen und Strömungen gefahren. Aber jetzt haben wir wieder festes Land unter den Füßen, und wir werden uns vom Meer abwenden und in das Tal wandern, das Kragg dir in deinen Träumen gezeigt hat.«
Bran sah über die Wellen, die in der Sonne glitzerten. Für ihn waren seine Träume wie das Meer. Er verstand sie nicht, aber sie waren da. In ihm. Eine Gabe von den Namenlosen, wie Turvi sagte.
»Ja, du hast die Gabe, Bran. Du bist ein Träumer, und deine Visionen werden uns auch das letzte Stück führen, so wie du uns über das Meer geführt hast.«
»Die Träume haben mir Bilder gezeigt.« Bran schloss die Augen und versuchte die Traumbilder heraufzubeschwören. »Bruchstücke. Aber ich verstehe sie nicht, und ich zweifle…«
»Damals hast du auch gezweifelt«, sagte Turvi. »Wir standen am Strand und schauten über die schäumenden Wellen. Sie haben dir Angst gemacht. Das habe ich in deinen Augen gesehen. Damals sagtest du, das feste Land sei dir lieber, weil es sich ruhig unter den Füßen verhält. Und jetzt sieh dich heute an, Bran! Du bist ein Seemann geworden. Und das ging schnell. Es ist noch nicht lange her, dass wir das Lager im Schatten des Lanzengebirges verließen. Es war Sommer, und der Herbst nahm dich mit in den Krieg der Arer. Als du zurückkamst, hatte der Winter uns in seinen kalten Klauen. Der Frühling verging. Und wir stachen wieder in See. Der Sommer war kurz, und nun ist schon wieder Herbst. Es liegt Frost in der Luft. Die Sonne steht tief. Also zweifle nicht, Bran. Denn wir alle vertrauen dir. Du hast uns deine Macht bewiesen.«
Bran sah auf seine abgenutzten Stiefelspitzen. Er hatte nie nach Macht gestrebt. Das war ein Wort, das in die Reden der Skerge gehörte. Aber er war selbst ein Skerg. Sein Blick wanderte zu dem Langschiff. Blutskalle hatte ihn zum Skerg
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