Das verletzte Gesicht
„Nein!“ sagen hörte. Diesen Ton kannte sie bestens. Er duldete keinen Widerspruch. Als Kind hatte sie dabei strammgestanden. Konfrontiert mit einer vollen Dosis von Helenas gerechter Empörung, zuckte sogar Freddy zusammen.
„Du hast dich nicht verändert.“ Sie sah ihn wütend an. „Ich bin nicht mehr das junge Mädchen von damals. Das Leben hat mich hart gemacht, aber auch klüger. Ich sehe dich, wie du wirklich bist: selbstsüchtig, gefühllos und selbstgerecht. Du hast mir geschadet, aber ich lasse nicht zu, dass du meinem Kind schadest!“
Sie wandte sich ihrer Tochter zu, und Charlotte stockte der Atem, als Helena näher kam. Dies war ihr erstes Zusammentreffen seit jenem Streit, nach dem sie Chicago verlassen hatte. Sie hatten sich schreckliche, unverzeihliche Dinge gesagt. Aber das alles war lange her und inzwischen bedeutungslos.
„Verzeih mir“, platzte Charlotte heraus, ihren Stolz überwindend. Sie wollte die Fehde beenden. Diese starke Frau mit all ihren Fehlern war ihre Mutter, und sie liebte sie.
„Nein.“ Helena umfasste ihr zartes Gesicht mit ihren rauen Händen, betrachtete es und machte ihren Frieden damit. „Es war meine Schuld“, widersprach sie und räusperte sich, um Fassung ringend. „Ich hätte dir von deinem Vater und den Umständen deiner Geburt erzählen sollen. Durch mein Schweigen wurde es zu etwas Schmutzigem, aber das war es nicht. Es ist geschehen. Zu lang habe ich mich nach Fridrych gesehnt, dabei hätte ich glücklich sein müssen, dich zu haben. Ich habe gesagt, du wärst meine Strafe gewesen. Aber das stimmte nicht. Du warst ein Geschenk.“ Sie straffte sich und nahm Charlottes schmale Hände in ihre. „Ich bin es, die um Verzeihung bitten muss.“
Charlotte schluchzte auf. Noch nie hatte sie ihre Mutter um Verzeihung bitten hören. Gern hätte sie sie umarmt, unterließ es jedoch, weil sie wusste, wie unangenehm ihr körperliche Nähe war.
Doch plötzlich umarmte Helena sie und hielt sie fest. Für einen Moment fühlte Charlotte sich in die Kindheit zurückversetzt. Da sie jedoch kein kleines Mädchen mehr war, wurde es Zeit, sich von Abhängigkeiten zu lösen und reife Entscheidungen zu treffen.
Sie straffte sich und wischte die Tränen fort. Dann drehte sie sich zu Michael um. Er hatte sie beobachtet und kam wieder näher. Für einen flüchtigen Moment fühlte sie sich in die Zeit bei den Mondragons zurückversetzt, wo sie stets dasselbe Glücksgefühl empfunden hatte wie jetzt, wenn er auf sie zugekommen war.
„Warum bist du hier?“ fragte sie und sah ihm in die Augen. „Die Wahrheit.“
Er verstand den Grund dieser Frage. „Weil ich dich liebe.“
„Auch ohne dieses Gesicht?“
Er legte ihr die Hände auf die Schultern. „Ich sagte, ich liebe
dich
. Dein Gesicht hat mich vielleicht fasziniert, aber verliebt habe ich mich in die Person. Auch wenn sich dein Gesicht verändert, verändern sich meine Gefühle nicht, das weiß ich.“
Sie nahm das erfreut zur Kenntnis, verbarg es jedoch, indem sie nur verhalten nickte.
„Glaube ihm nicht“, sagte Freddy und kam wieder näher, rotgesichtig und offenbar in Sorge, alles zu verlieren.
Sie spürte Michaels Anspannung. „Warte“, bat sie Freddy und wandte sich wieder an Michael. „Es gibt eine Möglichkeit, zu testen, ob sich deine Gefühle für mich mit meinem Aussehen verändern.“ Sie holte ein Foto aus ihrer Handtasche, das sie immer bei sich trug, um nicht zu vergessen, wer sie war und woher sie kam. „Das hier“, sagte sie und hielt es hoch wie ein Banner, „ist ein Foto von mir vor der Operation.“ Gespannt brachte sie es Michael. „Sieh es dir gut an. Ich nehme es dir nicht übel, wenn du weggehst.“ Sie reichte ihm die Aufnahme. „Könntest du dieses Mädchen lieben?“
Michael nahm das Foto nicht, sondern lächelte nur. „Ich sagte schon, das tue ich bereits.“
„Nein, ich meine das Mädchen auf dem Foto.“
„Ich habe das Foto bereits gesehen, in der Wohnung deiner Mutter.“
Verblüfft legte sie eine Hand an den Mund und wünschte von Herzen, ihm glauben zu können.
„Ich wusste, dass ich dieses Mädchen schon gesehen hatte, aber ich wusste nicht, wo. Bis ich dich heute auf der Bühne erlebte unter Vicki Rays Befragung. Du hattest diesen trotzigen Ausdruck in den Augen, diese Entschlossenheit standzuhalten. Plötzlich fiel mir ein, wo ich das schon mal gesehen hatte. Bei dem Mädchen im Fahrstuhl, in jener kalten Nacht. Ich erinnerte mich an die Augen, nicht an das
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