Das Verlies
Schlucken. Achtzehn Jahre, dachte sie und schüttelte den Kopf. Wenn er’s wirklich war, dann wird er aller Wahrscheinlichkeit nach noch nach Jugendstrafrecht verurteilt undkommt für maximal zehn Jahre in den Bau. Scheißspiel. So, und jetzt hör auf, darüber nachzudenken, bringt eh nichts.
Sie bezog das Bett, schaute sich noch einen Bericht in
Extra
an und ließ in einer weiteren Werbepause Wasser in die Wanne laufen. Um spätestens halb zwölf wollte sie in der Falle liegen und würde hoffentlich schnell einschlafen. Sie nahm die noch halb volle Dose Bier mit ins Bad, legte sich ins Wasser und schloss für einen Moment die Augen. Ein halbes Jahr war vergangen, seit sie zuletzt einen Mann gehabt hatte. Ein verdammt langes halbes Jahr. Am Wochenende würde sie sich schön machen und mal wieder in ihre Bar gehen und dort vielleicht einen Mann kennen lernen. Vielleicht. Sie trocknete sich ab, trank die Dose leer und putzte sich die Zähne. Um halb zwölf schlief sie ein.
Dienstag, 8.00 Uhr, Polizeipräsidium
Julia Durant hatte tief und fest geschlafen, fühlte sich aber dennoch nicht ausgeruht. Seit Wochen schon plagten sie Albträume, am häufigsten jener, in dem sie verzweifelt einem Zug nachrannte, ihn aber nicht mehr erreichte. Dabei wusste sie nicht einmal, weshalb sie diesen Zug unbedingt nehmen wollte oder musste, es war einfach nur erschreckend, als sie am Ende allein auf dem Bahnsteig stand und dem Zug hinterhersah. Ihr Leben war nicht in Ordnung, und mit jedem Monat mehr, der verging, meinte sie ihre Zeit vertan zu haben. Die Einsamkeit, die nur durch den Dienst unterbrochen wurde, zermürbte sie von Tag zu Tag mehr. Sie ging allein zu Bett und stand genauso allein wieder auf. Niemand, der sie in den Arm nahm, der mit ihr frühstückte oder mit dem sie am Abend vor dem Fernseher sitzen konnte. Immer öfter dachte sie, dass ihr Leben ein einziger Trümmerhaufen war, doch sie hatte keine Ahnung, wie sie auch nur das Geringste daran ändern konnte. Vor allem jetzt, mit dem Einsetzen des Herbstes, verfiel sie,wenn sie abends nach Hause kam, in eine depressiv-melancholische Stimmung, fing aus unerklärlichen Gründen an zu weinen und trank, um den Weltschmerz zu bekämpfen, gleich mehrere Dosen Bier hintereinander. Es war keine Lösung, das wusste sie, aber es gab niemanden, der ihr helfen konnte. Sie allein war für ihr Leben verantwortlich, und nur sie konnte etwas an ihrer verfahrenen Situation ändern.
Sie öffnete das Wohnzimmerfenster. Der Himmel war trüb und würde bald Regen bringen, die Temperatur war der Jahreszeit angemessen kühl. Während sie die Zeitung überflog, löffelte sie Cornflakes mit Zucker und Milch und trank zwei Tassen Kaffee. Auf die obligatorische Zigarette nach dem Frühstück wollte sie aber nicht verzichten, rauchte in aller Ruhe und bereitete sich innerlich auf den bevorstehenden Tag vor.
Als sie im Präsidium ankam, saß Berger bereits hinter seinem Schreibtisch, der jedoch schon in vier bis sechs Wochen im neuen Präsidium stehen würde. Ein Umzug, an den keiner ihrer Kollegen gerne dachte. Ihre Abteilung sollte mit zu den Ersten gehören, die umziehen würden. Sie kannte die neuen Büros schon, jedes eine perfekte Kopie des andern. Die Wände altweiß, dunkelgraue Lamellen an den Fenstern, ahornfarbene Einbauschränke, die sich die ganze Wand entlangzogen, hellgraue Schreibtische, hellgraue Sideboards, grauschwarzer PVC-Boden mit lauter hellen Pünktchen darauf, die aussahen, als wären tausende von Kippen darauf ausgetreten worden. Etwa hundertfünfzig bis zweihundert Meter lange Gänge im Karree, acht Innenhöfe mit langen Verbindungsröhren zwischen den einzelnen Komplexen und, und, und … Unpersönlich, steril, leblos. Aber es gab auch viele, denen das neue Präsidium gefiel. Sie allerdings würde lange brauchen, bis sie sich an die neue Umgebung gewöhnt haben würde, zu sehr hatte sie das alte Präsidium lieb gewonnen. Aber vielleicht hing dies auch nur damit zusammen, dass sie ein nostalgischer Mensch war und gerne in Erinnerungen schwelgte.
»Guten Morgen«, sagte Berger und schaute auf. Er schlug die
Bild
-Zeitung zu und faltete sie zusammen. Fast ein Jahr war seit seiner Heirat vergangen, und er sah seitdem jünger und dynamischer aus. Die große Trauer über den Verlust seiner Frau und seines Sohnes war verflogen, seine jetzige Frau Marcia war zwölf Jahre jünger, eine reizende und auf eine subtile Weise resolute Person, die ihm wieder jenen Lebensmut
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