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Das verlorene Gesicht

Das verlorene Gesicht

Titel: Das verlorene Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Johansen
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Plastilinstreifen, klebe sie zwischen die Markierungen und arbeite mich zu den Messpunkten vor.«
»Klingt wie ein Spiel aus einem Kindermalbuch, bei dem man die einzelnen Punkte miteinander verbinden muss.«
»So ähnlich ist es auch, nur dreidimensional und verdammt viel schwieriger. Ich muss mich auf die wissenschaftlichen Elemente der Gesichtskonstruktion konzentrieren, mich an die Weichteildicken-Messungen halten, wenn ich das Plastilin anbringe, und berücksichtigen, wo die Gesichtsmuskeln sich befinden und wie sie die Gesichtskonturen bestimmen.«
»Aber was ist mit der Größe der Nase? Der gute alte Jimmy hat gar keine mehr.«
»Das ist knifflig. Die Breite und die Länge werden durch Messpunkte bestimmt. Bei einem Caucasoiden wie Jimmy vermesse ich die Nasenöffnung an der größten Stelle und addiere auf jeder Seite fünf Millimeter für die Nasenflügel. Das ergibt die Breite. Die Länge oder der Vorsprung ergibt sich aus den Abmessungen des kleinen Knochens an der Basis der Nasenöffnung, dem Nasenbein. Es ist sehr einfach. Ich multipliziere die Abmessungen des Nasenbeins mit drei und addiere die Weichteildicke des Philtrums.«
»Ah, schon wieder das schreckliche Philtrum.«
»Interessiert Sie das nun oder nicht?«
»Doch, doch. Ich mache immer Witze, wenn ich mit etwas konfrontiert werde, das über meinen Horizont geht.« Er verzog das Gesicht. »Ehrlich, ich hab’s nicht böse gemeint. Fahren Sie fort.«
»Das Nasenbein bestimmt außerdem den Winkel der Nase. Es zeigt mir, ob die Nase nach oben gebogen ist, ob es sich um eine Hakennase handelt oder ob sie gerade ist. Wenn man erst mal die Nase hat, sind die Ohren leichter. Sie sind gewöhnlich genauso lang wie die Nase.«
»Klingt sehr präzise.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich wünschte, es wäre so. Bei allen Formeln, Messpunkten und wissenschaftlichen Daten über die Beschaffenheit einer Nase kann ich nie sicher sein, ob ich wirklich die ursprüngliche Nase rekonstruiere. Ich muss einfach mein Bestes tun und hoffen, dass ich nah dran komme.«
»Und der Mund?«
»Da gibt es auch definierte Messpunkte. Die Lippenstärke ergibt sich aus dem Abstand zwischen dem oberen und dem unteren Gaumenbogen. Die Breite des Munds entspricht gewöhnlich dem Abstand zwischen den Eckzähnen, der wiederum in aller Regel mit dem Abstand zwischen den Pupillen übereinstimmt. Die Dicke der Lippen entnimmt man anthropologischen Tabellen über die Weichteildicke. Wie bei der Nase muss ich mich auch hier auf meinen Instinkt verlassen, um –« Sie schob das Tablett von sich und stand auf. »Ich habe keine Zeit mehr zum Reden. Ich muss mich wieder an die Arbeit machen.«
»Ich nehme also an, ich bin entlassen.« Er erhob sich und nahm das Tablett. »Darf ich hin und wieder herkommen und Ihnen bei der Arbeit zusehen oder würden Sie das als aufdringlich empfinden?«
»Warum? Glauben Sie im Ernst, ich werde ihn wie Jimmy Hoffa aussehen lassen?«
»Nein. Aber könnte es denn passieren?«
Sie schüttelte den Kopf. »Haben Sie nicht zugehört? Die Knochenstruktur gibt alles Weitere vor.«
»Wie steht es mit dem Glätten und dem Ausfüllen des Gesichts? Und mit dem Urteilsvermögen bei Nase und Mund und –«
»Okay, wenn man von vorneherein von einer bestimmten Identität ausgeht, kann das die Arbeit beeinflussen. Deswegen sehe ich mir nie Fotos an, bis ich meine Arbeit beendet habe. Ich gestehe mir keinerlei kreative Freiheit zu, sondern gehe ausschließlich wissenschaftlich vor. Wenn der technische Aufbau komplett ist, kann ich das Gesicht als Ganzes betrachten und mein künstlerisches Talent ins Spiel bringen. Wenn ich nicht so vorgehen würde, wäre das Ergebnis irgendeine Skulptur und nicht ein rekonstruiertes Gesicht.«
Ihre Lippen wurden schmal. »Sie können sich darauf verlassen, dass ich es dazu nie kommen lassen würde. Jimmy wird nicht wie Jimmy Hoffa aussehen, es sei denn, er ist Jimmy Hoffa. Sie brauchen mich also nicht zu beobachten, Logan.«
»Das war nicht meine Absicht.« Er sah sie mit einem gequälten Ausdruck an. »Wenn ich eingestehe, dass ich nervös bin und vielleicht ein bisschen angespannt, lassen Sie mich dann zusehen? Bitte?«
»Haben Sie etwa Zweifel? Ich dachte, Sie wären sich so sicher, dass es sich um Kennedy handelt.«
»Ich möchte sehen, wie dieser Schädel lebendig wird, Eve«, sagte er einfach. »Ich weiß, ich habe Ihr Wohlwollen nicht verdient, aber würden Sie mir gestatten zuzusehen?«
Sie zögerte. Sie war immer noch wütend auf ihn. Nach

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