Das verlorene Ich
Er würde versuchen, relativ unbemerkt an das Wissen Simones heranzukommen. Etwas wie ein Instinkt diktierte ihm diese Vorgehensweise, und er fügte sich.
»Nun«, er bemühte sich um ein unverbindliches Lächeln, was ihm angesichts der Lokalität und der seltsamen Frau nicht leicht fiel, »vielleicht könnte es nicht schaden, wenn du meiner Erinnerung ein wenig auf die Sprünge helfen würdest?«
Sie glitt etwas näher zu ihm her, doch er wich um die gleiche Distanz zurück. Ihre Bewegung, die bei einer jungen Frau lasziv gewirkt hätte, sah bei ihr schlicht erbärmlich aus. Wie zufällig berührte sie ihre Schenkel, raffte dabei ihr Gewand, so daß die blasse, welke Haut sichtbar wurde.
»Ich habe mich nach dir gesehnt, Meister«, flüsterte sie heiser. »Nach den Nächten mit dir.«
Simones Tonfall und Gestik waren eindeutig. Und Landers war plötzlich fast überzeugt, daß es ein paar Dinge in seiner Vergangenheit gab, derer er sich lieber nicht erinnern würde.
»Keiner konnte mir nach dir geben, was ich brauchte. Niemand war je so wie du«, fuhr sie in gleichem, absurd sinnlichem Ton fort. »In den Nächten, die ich in Einsamkeit zubrachte, stellte ich mir vor, du wärest bei mir. Und all die wundervollen Dinge wurden wieder lebendig -« Sie schob den Stoff ihres Kleides nach oben und streichelte ihren Schoß.
Landers hatte keine Mühe, sich vorzustellen, wie Simone sich die Nächte, von denen sie sprach, vertrieben hatte. Daß sie ihn dabei kraft ihrer Phantasie zu sich beschworen haben sollte, ekelte ihn beinahe so sehr, als hätte er wirklich das Lager geteilt mit dieser - Schabracke .
»Hör auf damit!« herrschte er sie an. »Es widert mich an.«
»Aber«, entgegnete sie verstört, »bist du denn nicht zurückgekom-men, um -« Ihr Kleidersaum fiel, und Landers spürte einen Anflug von Erleichterung. Zugleich hoffte er inständig, daß es für ihn noch einen anderen Grund gab als diesen, nach Paris gekommen zu sein.
Wie sollte er weiter vorgehen? Wie konnte er in Erfahrung bringen, was er zu erfahren hoffte, ohne in irgendeiner Weise Verdacht oder Mißtrauen zu wecken?
»Es tut mir leid um Jerome«, sagte er dann. Kein sonderlich geistreicher Versuch, die Konversation in die gewünschte Richtung zu lenken, aber zumindest würde er Simone wohl von ihren abstrusen Phantasien ablenken. Hoffte er .
Simone sah ihn eine Sekunde lang konsterniert an. Dann lachte sie ihm ins Gesicht, hysterisch schrill und gehässig in einem.
»Naturellement!« rief sie dann, noch immer von solcher Heiterkeit gepackt, daß Landers sicher war, das Falsche gesagt zu haben. »Und wie es dir leid tut! Haben wir nicht beide getrauert ohne Ende in der Nacht seines Todes?«
»Wovon sprichst du?« fragte er verunsichert, doch sie schien ihn nicht einmal zu hören.
»Mir war gewesen, als würde der Teufel selbst mich stoßen, so hast du's mir besorgt - in der Nacht, in der mein Mann starb. Es war - köstlich!«
»Was?« stieß Landers hervor.
»Nun tu nicht so«, gab sie neckisch zurück. »Nicht einmal du könntest eine solche Nacht vergessen, Meister. Jerome verreckte, ein Sturm tobte über Paris - und ich habe es getrieben mit .«
». mit mir?«
Sie nickte, aber mit einemmal schien sie wie verwandelt. Ihre unverständliche Begeisterung gerann, und Simone stand starr.
In der plötzlichen Stille hörte auch Hector Landers das Geräusch. Draußen. Der Motor eines Fahrzeugs. Jetzt wurde er abgestellt.
»Vautier!« entfuhr es Simone.
»Vautier?« echote Landers. »Ich dachte .« »Giordan!« zischte sie. »Mein Schwiegervater. Du mußt verschwinden!« »Aber - weshalb?« »Rasch!« trieb sie ihn zur Eile.
*
Giordan Vautier schloß, im Fond des Mercedes sitzend, die Augen. Die Tristesse dieser Gegend deprimierte ihn, dessen Welt aus Beton und Stahl, Glas und Marmor bestand. An trüben Herbsttagen wie diesen verstärkte sich der Eindruck von Alter und vor allem Verfall noch. Und die Straße, an der sein Ziel lag, schien gar völlig dem Siechtum anheimgefallen. Wobei das Haus, das Vautier aufsuchen wollte, ihm manches Mal wie der eigentliche Herd dieses Niedergangs schien.
Was freilich nur Unsinn sein konnte . Trotzdem hielt sich der Gedanke hartnäckig in Giordan Vautier, mit geradezu gemeiner Ausdauer. Als wäre der Gedanke selbst ein Geschwür, das in ihm wucherte.
Vautier kam nicht oft hierher; einmal im Monat, eher seltener. Ab und an hatte er schon überlegt, ob er es überhaupt noch tun sollte. Aber stets hatte er
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